Vielen Publizisten, aber auch Sozialwissenschaftler behaupten, dass nationale Identitäten rein fiktiv seien. Die kulturelle Homogenität des Nationalstaates habe es nie gegeben und auch die historischen Narrative, die einer Nation eine besondere historische Mission oder Legitimität zuschreiben wollen und das nationale Wir überhaupt erst schaffen, seien nur rhetorische Diskurse. Man könne sie jeder Zeit dekonstruieren.
Auf den ersten Blick hat diese Kritik gute Argumente auf ihrer Seite. Aber zum einen sind die Erzählungen, die Nationalstaaten legitimieren, eben doch nicht ganz willkürlich gewählt. Man mag die Selbstdarstellung Polens als ewige Opfernation für einen Mythos halten, aber dass dieses Narrativ mit Blick auf das Schicksal des Landes zwischen dem späten 18. Jahrhundert und 1945 eine gewisse Berechtigung hat, lässt sich dennoch kaum bestreiten.
Zum anderen, darauf hat der englische Philosoph Roger Scruton hingewiesen, glaubt man an die großen nationalen Meistererzählungen nicht in erster Linie deshalb, weil sie streng wissenschaftlich beweisbar sind. Man glaubt daran, weil ein schon vorhandenes Gemeinschaftsgefühl der Bestätigung und der Verstärkung durch solche Narrative bedarf, die allerdings ein Minimum an Plausibilität aufweisen müssen.
Sie können dann freilich auch an ein verändertes nationales Selbstverständnis angepasst werden. So sind die alten Erzählungen von imperialer Größe in England heute politisch kaum noch relevant. An ihre Stelle ist dafür zum Teil die Erinnerung an die Abschaffung des Sklavenhandels oder an den siegreichen Kampf für die Gleichberechtigung der Arbeiter und der Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert getreten, so wie der heute dominante deutsche Nationalmythos derjenige einer, wenn auch verspäteten und erst nach 1945 einsetzenden, dafür jedoch umso radikaleren Befreiung von den Irrwegen der eigenen Geschichte ist.
Nun ließe sich argumentieren, dass man heute solche Narrative, egal wie konstruiert, einfach nicht mehr benötige, weil wir alle Kosmopoliten sind oder zumindest sein sollten. Indes zeigt nicht zuletzt die gegenwärtige Krise der EU: Ein politisches System, das keine großen Erzählungen mit historischer Tiefendimension besitzt, die ein Zusammengehörigkeitsgefühl festigen können, bleibt eben doch fragil. Sicher beruft sich die EU immer wieder auf ihren einen großen Gründungsmythos: dass sie einem Europa, das sich durch Kriege selbst zerstörte, den Frieden geschenkt habe.