Die Europäische Union hat die Angriffe auf Zivilisten in Syrien scharf verurteilt, droht aber vorerst nicht mit konkreten Sanktionen gegen Russland. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich zwar nach dem ersten Tag des EU-Gipfels in Brüssel ungewöhnlich scharf gegen Syriens Verbündeten Moskau. Doch folgten in stundenlangen Gesprächen offenbar nicht alle Partner der harten Linie. Die Schlusserklärung wurde im Vergleich zu einem früheren Entwurf abgemildert.
Merkel sprach von einem menschenverachtenden Bombardement in der nordsyrischen Stadt Aleppo. Alle EU-Partner seien sich einig gewesen, dass man „alle verfügbaren Maßnahmen aktivieren“ müsse, wenn dies nicht aufhöre. Ganz ähnlich äußerte sich EU-Ratspräsident Donald Tusk. Merkel räumte aber ein, dass nicht über einen Zeitplan gesprochen worden sei.
Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi sagte, es mache keinen Sinn, jetzt einen Hinweis auf Sanktionen zu setzen. Entscheidend seien ein echter Waffenstillstand und ein Prozess für einen politischen Übergang. Der österreichische Kanzler Christian Kern sagte, niemand in der Gipfel-Runde habe Sanktionen gefordert. Es sei eine „sehr lange, sehr erschöpfende Russland-Diskussion“ gewesen.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Hinter der Debatte steckt der Zwiespalt, einerseits Russland und Syrien wegen der Zerstörung in dem Bürgerkriegsland anzuprangern, anderseits die Beziehungen zu Moskau aber nicht ganz auf Eis zu legen. Merkel hatte erst am Mittwochabend in Berlin mit Präsident Wladimir Putin über die Konflikte in Syrien und in der Ukraine verhandelt.
Während der langen Syrien-Debatte der Staats- und Regierungschefs eskalierte am Rande des Treffens der scheinbar endlose Streit um den Freihandelspakt Ceta. Die belgische Region Wallonie hatte Nachbesserungen gefordert und vorige Woche ihr Veto gegen eine Unterschrift Belgiens eingelegt.
Die EU-Kommission vermittelte einen Kompromiss mit Zugeständnissen an die Wallonie, die in die ohnehin geplante Zusatzerklärung zum Abkommen aufgenommen werden sollten. Doch kam am späten Donnerstagabend die Absage aus der Wallonie. Regionalregierungschef Paul Magnette sagte nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Belga zwar, es habe echte, aber nicht genügend Fortschritte gegeben. Er kündigte direkte Gespräche mit der kanadischen Handelsministerin Chrystia Freeland an.
Auch Merkel sagte, die Gespräche liefen weiter. Über einen Stopp des über Jahre ausgehandelten EU-Vertrags mit Kanada wollte die CDU-Chefin nicht spekulieren. „Wir arbeiten daran, dass es nicht dazu kommt, aber die Gespräche sind schwierig“, sagte Merkel. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker betonte die Bedeutung von Ceta für die Glaubwürdigkeit der Union: „Wenn wir dieses Handelsabkommen mit Kanada nicht abschließen können, sehe ich nicht, wie es möglich sein soll, Handelsabkommen mit anderen Teilen der Welt zu vereinbaren.“
Die Staats- und Regierungschefs hatten am Donnerstagnachmittag zunächst ihre strikte Linie gegen illegale Migration bekräftigt. Dazu will sie den Grenzschutz weiter stärken und mehr illegal eingereiste Migranten ohne Bleiberecht zurückzuschicken. Über die deutschen Pläne zur Verlängerung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum wurde jedoch gestritten. Am Ende fand man eine Formulierung, die die Verlängerung zumindest nicht ausschließt.
Erstmals nahm die neue britische Regierungschefin Theresa May an einem EU-Gipfel teil. Sie versicherte, Großbritannien werde ein „starker und verlässlicher Partner“ bleiben. Beim Arbeitsessen ermahnte sie ihre Kollegen aber, bei eigenen Gipfeln ohne Großbritannien nichts zu entscheiden, was alle 28 Länder betreffe.