Görlachs Gedanken

Zerbricht die EU, dann zerbricht der Westen

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Anders als damals und doch vergleichbar

Die Frage, ob sich unsere Zeit mit den Jahren zwischen den Weltkriegen und dem Erstarken des Faschismus und Nationalsozialismus vergleichen lassen, kann man mit einem klaren Ja beantworten. Die Bedingungen, die dazu führen, dass sich die Bewohner der Alten Welt wieder von nationalem Geschwätz und der damit einhergehenden Rhetorik von Allmacht einlullen lassen, sind sicher anders als damals. Aber die Anfälligkeit für Abgrenzung und Isolationismus ist wieder zurück, sie bricht sich Bahn in der Dämonisierung des Anderen. In der Gegenwart ist es der Islam, sind es die Muslime, ein Feindbild, das viele Europäer eint. Daneben gibt es aber die vielen kleinen „anderen“, wie in England der polnische Arbeiter beispielsweise.

Was ist der Westen? In den vergangenen siebzig Jahren war das für Europa: Multilateralismus, Demokratie, öffentliche Debatte, Überwindung von Landesgrenzen, Harmonisierung der Lebensbedingungen (rechtlich, wirtschaftlich) aller Menschen, die innerhalb der Europäischen Union leben. Diese Entwicklung hat die größte liberale demokratische Fläche der Erde hervorgebracht. Noch nie haben so viele Menschen so dauerhaft in Frieden und Wohlstand gelebt. Dieses Projekt zeigt allen Radikalismen, die sich im Morast unter der Oberfläche vegetierend erhalten haben, den Mittelfinger. Der Nationalismus ebenso wie der Sozialismus sind untergegangen. Ein Schelm ist aber der, der denkt, dass sich diese Ideen für immer verabschiedet hätten.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

Der Westen ist nicht untergegangen. Er wird auch nicht untergehen, weil das Vereinigte Königreich am Ende nicht wirklich aus der Europäischen Union austreten wird. Das Wahlvolk ist aufgewacht und hat erkannt, dass es zum einen von seinem Wahlrecht nicht Gebrauch gemacht hat (das sind die jungen Nichtwähler) und das andere sind die Prothesen-Wähler, die lernen mussten, dass Nigel Farage ihnen kein goldenes Hüftgelenk spendieren wird. 

Der Westen geht dann unter, wenn Politiker wie Boris Johnson oder Viktor Orban in ganz Europa an die Macht kommen. Ihnen fehlt die innere Spannkraft, um eine liberale Demokratie wie die Europäische Union am Leben zu erhalten.

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