Justizminister Michael Gove hatte zwar schon vor einiger Zeit erklärt, er habe kein Interesse am höchsten Regierungsamt, könnte aber antreten, falls Johnson sich nicht dazu entschließt. Der ehemalige Erziehungsminister gilt als blitzgescheit, eckte allerdings in der Vergangenheit wegen seines polarisierenden Auftretens an. Ähnlich wie Johnson werden ihm die gemäßigten Tories nicht verzeihen, sich in der Brexit-Debatte gegen Cameron gestellt und damit zu dessen Rücktritt beigetragen zu haben. Damit aber rückt Innenministerin Theresa May ins Blickfeld, eine Politikerin, die es in den vergangenen Monaten geschickt vermieden hatte, unangenehm aufzufallen: Offiziell blieb sie loyal, inoffiziell signalisierte sie jedoch ein hohes Maß Sympathie für die Euroskeptiker. Als erfolgreiche Innenministerin, unter deren Ägide Großbritannien bisher von einem großen Terroranschlag verschont blieb, gilt sie als äußerst kompetent – allerdings auch als kalt und berechnend.
Osborne hat keine Chancen auf Premierministeramt mehr
Durchaus möglich also, dass unverhofft noch ein ganz anderer Kandidat aus der Kulisse tritt. Auch dafür gibt es in der Tory-Partei Beispiele: So trat 1990 gegen Margaret Thatcher der extrovertierte Michael Heseltine an, doch das Rennen machte schließlich der farblose Finanzminister John Major. Bedenkt man dies, so könnte sogar der gegenwärtige Außenminister Philip Hammond gewisse Chancen haben, als Kompromisskandidat gewählt zu werden. Er gilt schon lange als Euroskeptiker, hatte sich aber in den vergangenen Wochen ebenfalls mit scharfen Angriffen gegen die EU-Befürworter zurückgehalten.
Mit Sicherheit lässt sich jedenfalls sagen, dass ein Kandidat mit dem heutigen Tag chancenlos ist, Cameron zu beerben: Finanzminister George Osborne waren bisher die besten Aussichten eingeräumt worden – doch er hatte sich wie sein Chef vehement für den Verbleib in der EU eingesetzt und gilt daher nun ebenfalls als Minister auf Abruf. Ein schwacher Trost dürfte ihm der Blick auf die Opposition sein, die nun bei der Aufarbeitung der dramatischen Ereignisse der vergangenen Nacht ebenfalls in eine Führungskrise trudelt: Labour-Chef Jeremy Corbyn muss mit einem Misstrauensvotum von zwei Parteifreunden rechnen.
Corbyn hatte sich kaum für die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens engagiert und durch sein leidenschaftsloses Auftreten wohl auch maßgeblich zum Erfolg des Brexit-Lagers bei den Wählern aus der Arbeiterschicht beigetragen. Am nächsten Dienstag will die Labour-Partei über den Misstrauensantrag abstimmen. Dann wird womöglich auch die zweite große Volkspartei Großbritanniens führerlos sein.