So drückte der Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1998 den EU-Ländern eine Begrenzung ihres Haushaltsdefizits auf, verbunden mit der Forderung, das Verhältnis der Staatsverschuldung zum jährlichen Bruttoinlandsprodukt auf höchstens 60 Prozent zu senken. Nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 sah Kanzlerin Angela Merkel eine Chance, die EU noch stärker zu machen und einen neuen „Fiskalpakt“ durchzusetzen, so dass die EU-Kommission jedes Jahr die Staatshaushalte der Mitgliedsländer kontrollieren kann – mit der Möglichkeit, Strafen für die Verletzung von Haushalts- und Schuldenzielen zu verhängen (wobei solche Strafen bisher noch nie verhängt wurden).
Deutschland war auch führend bei der Initiative für eine europäische Bankenunion, ein einheitliches Regelwerk und einen verbindlichen Mechanismus zur Krisenlösung, wenn Geldhäuser in Schwierigkeiten geraten.
Ein Teil dieser Entwicklungen berührte das Vereinigte Königreich nicht unmittelbar. Trotzdem vertieften sie die intellektuelle und politische Kluft zwischen Großbritannien und der Euro-Zone. Es verstärkte sich der grundsätzliche Gegensatz zwischen den stets marktorientierten Regierungen in London und denen in vielen anderen europäischen Hauptstädten, wo Traditionen des Sozialismus, der staatlichen Wirtschaftsplanung und der starken Regulierung wirtschaftlichen Abläufe stark geblieben sind.
Dazu kommt die unklare Kompetenzabgrenzung zwischen der EU-Bürokratie und den Mitgliedsländern. Maßstab ist das vieldeutige Prinzip der Subsidiarität, das der katholischen Soziallehre entlehnt ist. Danach sollen Entscheidungen stets auf der Ebene der kleinsten Einheit getroffen werden, die in der jeweiligen Frage kompetent ist. Nach dem Text der Römischen Verträge „wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können“. Das hat in der Praxis die Regulierungswut in Brüssel und Straßburg nicht eingedämmt.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Das Subsidiaritätsprinzip schützt die nationalen Regierungen in der EU viel weniger als das amerikanische Verfassungsrecht die 50 Einzelstaaten, denen Washington nur hineinreden darf, wenn die Verfassung der USA das ausdrücklich festlegt.
Entsprechend ist die britische Öffentlichkeit mit ihrem Unbehagen an der EU nicht alleine. Eine Mehrheit sieht die EU laut einer neuen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew nicht nur in Großbritannien negativ, sondern auch in Frankreich und in Spanien. In Deutschland halten sich Befürworter und Gegner die Waage. Italien ist das einzige große Mitgliedsland, in dem eine klare Mehrheit sagt, man habe von der Mitgliedschaft in der EU profitiert. Aber auch hier hat die populistische Fünf-Sterne-Bewegung, deren Kandidatin gerade mit 67 Prozent der Stimmen zur Bürgermeisterin von Rom gewählt worden ist, ein Referendum über den Austritt aus der Euro-Zone versprochen, falls sie die kommenden Parlamentswahlen gewinnt.
Jetzt warnen viele Amtsträger und Fachleute vor schlimmen wirtschaftlichen Folgen des Brexit.
Viel hängt davon ab, wie die zukünftige Beziehung der EU zu Großbritannien geregelt wird. Das Vereinigte Königreich hat auch eine weitere Option: Die Briten können jetzt ein für sie günstigeres Handels- und Investitionsabkommen mit den USA abschließen. Zwischen Brüssel und Washington sind die TTIP-Verhandlungen festgefahren – dagegen könnte eine britische Regierung für sich alleine viel leichter mit den USA zum Vertragsabschluss kommen. Amerika würde nur mit einem Land zu tun haben, nicht mit 28, von denen viele nicht so marktfreundlich sind wie Großbritannien.
Jedenfalls ist die Frage der EU-Mitgliedschaft der Briten geklärt. Jetzt hängt ihre wirtschaftliche Zukunft davon ab, was sie mit ihrer neu gewonnenen Unabhängigkeit anfangen.