Strittige Justizreform EU-Kommission fordert Verwarnung Polens

Ärger für Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki - die EU will Polen verwarnen. Quelle: dpa

Die EU-Kommission will Polen wegen der als undemokratisch kritisierten Justizreform förmlich verwarnen. Dafür setzte sie am Mittwoch ein Verfahren in Gang, durch das der Europäische Rat über die Rüge entscheiden muss.

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Die EU-Kommission hat in einem beispiellosen Schritt ein Verfahren gegen Polen wegen möglicher Verletzung der demokratischen Grundwerte eingeleitet. Um gegen die Justizreform der Regierung vorzugehen, aktivierte die Brüsseler Behörde erstmals überhaupt am Mittwoch den Artikel 7 des EU-Vertrags, an dessen Ende auch der Entzug von Stimmrechten stehen könnte. "Die Kommission ist heute zu dem Schluss gekommen, dass ein großes Risiko eines massiven Bruchs der Rechtsstaatlichkeit in Polen gegeben ist", hieß es in einer Erklärung. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wies den Vorwurf zurück. In Ungarn kündigte die Regierung an, mögliche Sanktionen gegen Polen mit einem Veto zu blockieren. Die Bundesregierung will das Verfahren gegen Polen dagegen unterstützen.

Es gehe nicht nur um Polen, sondern um die Europäische Union als Ganzes, rechtfertigte EU-Kommissar Frans Timmermans den außergewöhnlichen Schritt. Die EU-Kommission streitet seit Monaten mit der nationalkonservativen Regierung in Polen über die Justizreform, in der sie eine Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz und damit des demokratischen Prinzips der Gewaltenteilung sieht. Sollte die Anwendung der Rechtsstaatlichkeit vollständig den Mitgliedsstaaten überlassen werden, sei die gesamte EU gefährdet, warnte Timmermans.

Vor anderthalb Wochen hatte sich das Parlament in Warschau die Vollmacht über die Besetzung des Obersten Gerichtshofs übertragen. Außerdem wurde die Altersgrenze für Richter am Verfassungsgericht von 70 auf 65 Jahre gesenkt. Damit müsste ein großer Teil von ihnen gehen. Die Verfassungsrichter lehnen die Justizreform ab. Zudem sollen die Abgeordneten ermächtigt werden, die meisten Mitglieder des Landesjustizrates zu bestimmen. Dieses Gremium schlägt in Polen Richter vor. Die Vorlagen müssen noch den Senat passieren und von Präsident Andrzej Duda abgesegnet werden. Dies muss bis zum 5. Januar geschehen.

Bereits im Juli hatte Duda das erste Gesetz der Justizreform unterzeichnet. Damit hat der Justizminister das Recht, die Präsidenten der allgemeinen Gerichte zu ernennen und zu entlassen. Der Regierung zufolge soll die Reform Korruption bekämpfen und das Rechtssystem effektiver machen. PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski, der eigentlich starke Mann hinter der polnischen Regierung, argumentiert zudem, es gehe darum, noch aus Zeiten der Sowjetunion stammende Seilschaften zu entmachten.

Aktivierung des Artikel 7

"Wir haben schweren Herzens den Artikel 7 aktiviert", sagte Timmermans. "Aber die Fakten haben uns keine andere Wahl gelassen." Offenkundig um dem Vorwurf antipolnischer Ressentiments in Brüssel vorzubeugen, lobte er die Rolle Polens bei der Überwindung des Kalten Krieges und appellierte an die Verantwortung, keine Gefährdungen der Demokratie zuzulassen. Die Auseinandersetzungen treffen die EU in einer schwierigen Phase, da nach dem Brexit die Fliehkräfte zunehmen. Neben Polen haben auch in anderen osteuropäischen Staaten EU-skeptische Kräfte an Einfluss gewonnen.

Ministerpräsident Morawiecki erklärte zwar, in Polen werde die Rechtsstaatlichkeit genauso geachtet wie in anderen EU-Ländern, zeigte sich aber auch gesprächsbereit. Bei dem Dialog mit der EU-Kommission sei Offenheit und Ehrlichkeit nötig, twitterte er. Zugleich beharrte er darauf, dass die Justizreform nötig sei. Das Außenministerium in Warschau kündigte an, mögliche Sanktionen vor EU-Gerichten anzufechten. Eine PiS-Sprecherin schlug eine wesentlich härte Tonart an und warf der EU-Kommission vor, eine "politisch motivierte" Entscheidung getroffen zu haben, weil Polen nach wie nicht bereit sei, Flüchtlinge aufzunehmen.

Mit der Aktivierung von Artikel 7 steht die EU vor einem mehrstufigen Verfahren. Demnach müssen zunächst mindestens 22 der 28 EU-Staaten nach einer Anhörung Polens entscheiden, ob die Vorwürfe der Kommission zutreffen und der nächste Schritt eingeleitet wird. Erst dann geht es um die Feststellung, ob in Polen mit der Justizreform dauerhaft die Werte der EU verletzt werden. Erst wenn diese von allen 27 EU-Mitgliedsstaat - Polen stimmt dabei nicht mit - bejaht wird, können Sanktionen beschlossen werden. Der stellvertretende Regierungschef in Ungarn, Zsolt Semjen, erklärte jedoch, das Vorgehen der EU-Kommission sei inakzeptabel und verletze die Unabhängigkeit Polens. Ungarn werde im Europäischen Rat sein Veto gegen den Beschluss einlegen. Auch Ungarn wird von anderen EU-Ländern Verstöße gegen EU-Standards vorgeworfen.

Sollte es jedoch trotzdem zu einer einstimmigen Verurteilung Polens kommen, drohen dem Land schmerzhafte Sanktionen. Dies kann von der Einschränkung der Mitbestimmungsrechte in EU-Angelegenheiten bis zu Einschnitten bei den Finanzhilfen aus Brüssel gehen. Polen bezieht derzeit unter dem Strich mehr EU-Fördermittel als jedes andere EU-Land.

Die Bundesregierung hatte sich bereits vor der Entscheidung hinter die EU-Kommission gestellt. "Wenn es zu der Entscheidung kommt, würden wir sie unterstützen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwochvormittag in Berlin. In London forderte Premierministerin Theresa May, die Rechtsstaatlichkeit müsse eingehalten werden. May werde bei einem Treffen mit Morawiecki am Donnerstag die Bedenken ansprechen.

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