Eigentlich müsste bei den brasilianischen Farmern Hochstimmung herrschen: Sie fahren gerade eine Rekordernte an Mais und Soja ein. Wegen der Dürre in den USA sind die Preise dafür auf den Spotmärkten seit zwei Monaten stark gestiegen. Dennoch können sich Brasiliens Farmer nicht so richtig freuen. Viele bekommen ihre Ernte weder an die Küste transportiert noch nach Übersee verschifft.
Die Straßen an die Atlantikküste sind voller Schlaglöcher und chronisch überlastetet, genauso wie die Häfen. Die werden zudem seit Wochen bestreikt. Vor den drei großen südbrasilianischen Häfen warten mehrere Dutzend Frachter auf die Einfahrt. Verzweifelt lagern die Farmer derweil Mais und Soja auf ihren Feldern und hoffen, dass kein Regen die Ernte verdirbt.
Der Kollaps von Brasiliens Straßen, Häfen, Flughäfen und Schienennetzen ist für die Landwirtschaft eine Katastrophe. Mit Agrarprodukten wie Zucker, Kaffee, Soja, Rindfleisch oder Orangensaft dominieren brasilianische Farmer den Weltmarkt. Sie zählen zu den wichtigsten Lebensmittellieferanten einer wachsenden Weltbevölkerung. Doch was nützt es, wenn die Straßen fehlen, um Soja zu transportieren, die Pipelines, um Ethanol in die Ballungsräume zu pumpen, oder die Häfen, um Zucker oder Rinderhälften zu verschiffen? Diese Frage stellt sich auch für den Bergbau, der ebenfalls zu den wichtigsten Lieferanten des Weltmarkts gehört. Anfang des Jahres legten schwere Regenfälle die Minen von Vale, des Weltmarktführers für Eisenerz lahm. Die Züge kamen nicht an die Küste.
Die größten Rohstoffkonzerne der Welt
Mit einem Umsatz von 110,3 Milliarden Euro ist Glencore schon heute einer der größten Rohstoffkonzerne der Welt. Durch die Fusion mit dem zweitgrößten Schweizer Rohstoffkonzern Xstrata erreicht der neue Konzern einen Börsenwert von rund 80 Milliarden Dollar. Damit entsteht ein neuer Rohstoffriese.
Der multinationale Konzern gehört nicht nur zu den weltweit führenden Unternehmen beim Abbau von Kohle, Diamanten und Kupfer - auch in der Aluminiumproduktion ist der Konzern Weltmarktführer. Der Börsenwert wird auf 93,7 Milliarden Dollar geschätzt.
Der brasilianische Rohstoffriese kontrolliert 35 Prozent des Eisenerz-Marktes, vor allem mit Exporten aus dem Heimatland. Der Börsenwert wird auf 105,9 Milliarden Euro taxiert. Neben dem Rohstoffgeschäft gehört das Unternehmen zu den führenden Logistikkonzernen Brasiliens.
Der australische-britische Rohstoffriese ist ein begehrtes Übernahmeziel der Konkurrenz. Rio Tinto und Chinalco waren an einer Übernahme interessiert, doch das Geschäft platzte. Mit einem Börsenwert von 153,9 Milliarden Euro ist BHP Billiton heute der wertvollste Rohstoffkonzern der Welt.
Der chinesische Rohstoffkonzern ist der zweitgrößte Kohleproduzent der Welt. Durch Übernahmen im Energiesektor ist der Börsenwert des größten asiatischen Rohstoffunternehmens auf 65,5 Milliarden Dollar angewachsen.
Gold, Diamanten, Platin - der britisch-südafrikanische Rohstoffkonzern hat sich vor allem auf edle Rohstoffe spezialisiert. Aber auch Kohle, Eisen und weitere Industriemetalle gehören zum Portfolio des Konzerns. Der Börsenwert beträgt rund 45 Milliarden Euro.
Ausfälle in Bergbau und Landwirtschaft
Die Ausfälle im Bergbau und in der Landwirtschaft schaden der gesamten Volkswirtschaft. Noch im vergangenen Jahr konnte der Export von Erz und Agrargütern die Wachstumsschwäche der Industrie ausgleichen. In diesem Jahr nicht. Die Industrie lahmt wegen der hohen Kosten und unter dem anhaltend hohen Wechselkurs des Real. Brasilien wird dieses Jahr weniger als zwei Prozent wachsen, nach bereits mageren drei Prozent im vergangenen Jahr. Das ist zwar vor dem Hintergrund der Krise in der Weltwirtschaft keine Katastrophe – doch sehr bescheiden für ein Land, das zu den Kraftprotzen der Weltwirtschaft gehören will.
Schlusslicht Brasilien Reales Wirtschaftswachstum der Bric-Staaten | |||
| 2010 | 2011 | 2012 |
Brasilien | 7,5 % | 2,7 % | 2,5 % |
Russland | 4,3 % | 4,3 % | 3,0 % |
China | 10,4 % | 9,2 % | 8,4 % |
Indien | 8,2 % | 7,5 % | 5,9 % |
Quelle: HSBC |
Auf Druck der Regierung hat die Zentralbank den Leitzins von zwölf Prozent noch vor einem Jahr auf jetzt 7,5 Prozent gesenkt. Bei einer Inflationsrate von fünf Prozent liegt der Realzins so niedrig wie zuvor. „Das hätte vor einem Jahr niemand für möglich gehalten“, staunt Mauro Leos, Lateinamerika-Experte der Ratingagentur Moody’s. Mit der Zinssenkung soll vor allem der weitere Anstieg des Außenwerts des Real verhindert werden, der den Exporteuren das Geschäft erschwert.
Stabil im Vergleich zu anderen Industrieländern
Doch bislang hat es nichts genutzt. Auslandsinvestitionen fließen mit rund 50 Milliarden Dollar in den vergangenen zwölf Monaten weiterhin auf Rekordniveau ins Land. Für Moody’s steht Brasilien im Vergleich zu vielen Industrieländern stabil da: Die Devisenreserven sind so hoch wie nie. Die Verschuldung des Staates sinkt stetig. Das Bankensystem ist hochsolide. Deswegen ist Jim O’Neill von Goldman Sachs weiterhin zuversichtlich, dass Brasilien im Durchschnitt dieser Dekade vier bis fünf Prozent jährlich wachsen könnte: „Brasilien wird wegen zwei wachstumsschwacher Jahre zu negativ eingeschätzt.“
Dennoch sind viele Finanzinvestoren skeptisch, ob Brasiliens Wirtschaftswunder auch langfristig anhalten wird. Zwar hat Brasilien in den vergangenen Jahren wie wenige andere Länder von der neuen Dynamik der Weltwirtschaft profitiert: Als Rohstoffproduzent wurde das Amazonasland ab 2003 Zulieferer für den Boom in Fernost, dann heizten die größten Ölvorkommen weltweit vor der Küste Brasiliens die Fantasie der Investoren an. Und schließlich hielt die Konsumfreude einer aufsteigenden neuen Mittelschicht den Binnenmarkt am Laufen.
Doch damit ist jetzt Schluss. Viele Brasilianer haben sich in den Jahren des Booms trotz wachsender Einkommen zu hoch verschuldet. Nun können sie ihren Konsum kaum noch steigern. Zwar liegt die private Verschuldung der Brasilianer mit 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im weltweiten Vergleich auf niedrigem Niveau. Doch etwa ein Viertel ihrer Einkünfte müssen die Brasilianer inzwischen für Ratenzahlungen abzweigen – zu viel, warnt der Internationale Währungsfonds.
Stagnierende Investitionen
Bedrohlicher für Brasiliens künftiges Wachstumspotenzial sind aber die stagnierenden Investitionen: Nur noch rund 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden darauf verwendet, dass Unternehmen neue Fabriken bauen oder Maschinen kaufen. Ziel der Regierung ist seit Jahren, die Investitionsquote auf mehr als 25 Prozent zu steigern – was vor allem wegen der niedrigen Sparquote misslingt. „Wir konsumieren lieber, als dass wir sparen“, sagt der Ökonom und Philosoph Eduardo Gianetti.
Dieses Problem will die Regierung jetzt angehen. Präsidentin Dilma Rousseff hat vor wenigen Wochen ein groß angelegtes Privatisierungs- und Konzessionsprogramm vorgestellt: Private Konzerne sollen in den nächsten fünf Jahren umgerechnet rund 50 Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur investieren.
Lizenzen versteigern
Mit ihrer Initiative stellt Rousseff die Wirtschaftspolitik ihres Vorgängers Luiz Inácio Lula da Silva auf den Kopf. Rousseff scheint klargeworden zu sein, dass mit öffentlichen Mitteln weder bis zur Fußball-WM 2014 noch zu den Olympischen Spielen 2016 die gravierenden Infrastrukturprobleme Brasiliens in den Griff zu bekommen sind. Die Präsidentin will deswegen den Bau von 5000 Kilometer Straße sowie 12.000 Kilometer neue Schienentrassen ausschreiben, dazu die Lizenzen für fünf neue Flug- und Meereshäfen versteigern. „Das könnte einen Zeitenwechsel in der Wirtschaftspolitik einleiten“, sagt Lateinamerika-Experte Gary Newman von Morgan Stanley, „erstmals versucht die Regierung, langfristige Probleme nicht mit kurzfristigen Konsumsteigerungen zu lösen.“
Ob es gelingt, wird sich zeigen. „Die Regierung muss erst noch beweisen, dass sie an so vielen Fronten gleichzeitig die Ausschreibungen fristgerecht organisieren kann“, ist Newmans Kollege Arthur Carvalho bei Morgan Stanley eher skepetisch.
Ein anderes Problem ist die geringe Konkurrenzfähigkeit der brasilianischen Industrie. Weil die Löhne hoch sind und die Produktivität niedrig, leiden die Unternehmen unter horrenden Arbeitskosten. Dazu kommt: Viele Arbeitskräfte sind mangelhaft ausgebildet, Fachkräfte fehlen. Deshalb und auch wegen einer hohen Steuerbelastung sind Produkte brasilianischer Konzerne immer weniger wettbewerbsfähig. „Die ganze Welt außer China erlebt eine Deindustrialisierung“, sagt der renommierte brasilianische Ökonom Edmar Bacha, „doch in Brasilien geht das derzeit besonders schnell.“
So schrumpfte der Anteil der Industrie am BIP seit 2010 von 16,2 auf 14,6 Prozent. Selbst Unternehmen mit erwiesener Spitzentechnologie im Angebot wie der Flugzeugbauer Embraer haben Schwierigkeiten, ihre in Brasilien gefertigten Jets weltweit zu verkaufen. Denn wettbewerbsfähig sind die brasilianischen Konzerne mit ihrem Know-how auf jeden Fall – doch immer öfter können sie das nur noch beweisen, wenn sie im Ausland produzieren. Das zeigt Ambev, der größte Getränkehersteller Lateinamerikas, oder der Stahlhersteller Gerdau, die Nummer eins bei Langstahl in den USA.
Zölle und Subventionen
Bisher schützt die Regierung ihre Industrie mit Zöllen und Subventionen vor der ausländischen Konkurrenz. Ausländische Unternehmen werden dazu gezwungen, möglichst viel lokal zu produzieren. Doch dieser Protektionismus schadet mehr, als er nutzt, klagt Ökonom Bacha: „Brasilien schützt seinen Binnenmarkt, anstatt seine Unternehmen wettbewerbsfähig für den Weltmarkt zu machen.“
Dennoch sind die meisten Ökonomen verhalten optimistisch. Das Land wird weiterhin ein Ort der Stabilität in einer kriselnden Weltwirtschaft sein. „Brasilien wird sich von einer weltweiten Rezession schneller erholen als die meisten Emerging Markets und alle Industrieländer“, prophezeit etwa der renommierte Ökonom Kenneth Rogoff.