Kapitalismuskritik

Die leidige Debatte um das Piketty-Buch

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Die organisierte VWL gratuliert in Thomas Piketty sich selbst

Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

4. Der zweite Grund des Jubels: Die organisierte Volkswirtschaftslehre gratuliert in Thomas Piketty sich selbst. Endlich ist da wieder ein Ökonom, der nicht nur enormen empirischen Aufwand betreibt, sondern seine gewaltigen Zahlenkolonnen auch in die Form einer großen Erzählung zu gießen versteht! Endlich wieder ein kluger Kopf aus der Mitte der Zunft, der die Dechiffrierung des Kapitalismus nicht Philosophen, Anthropologen, Psychologen überlassen muss! Ein Ökonom, der historisch informierte moral science zu betreiben versteht, statt sich fühllos-interessegeleitete Zombies herbei zu fantasieren, um die Welt und die Menschen seinen Optimalmodellen anzuverwandeln. Thank you again, Thomas Piketty!

An dieser Stelle setzte meine Kritik ein. Sie lässt sich in fünf Punkten zusammenfassen. 

 a) Piketty schreibt nichts Epochales. Allenfalls beglaubigt er statistisch, was dem gesunden Menschenverstand seit dem 19. Jahrhundert geläufig ist: Wer so reich ist, dass seine Zinserträge über dem durchschnittlichen Lohneinkommen liegen, kann allenfalls durch Kriege, Weltwirtschaftskrisen oder regierende Kommunisten verarmen.

b) Piketty schreibt nichts Neues. Seine eigenen Daten machen seit Jahrzehnten die Runde. Andere Daten über die Ungleichheit sind - auch in Deutschland - ständig im Umlauf. Soziologen wie Sighard Neckel befassen sich seit geraumer Zeit mit dem Thema. Das "Schrumpfen der Mittelschicht", die "Erosion des Leistungsprinzips" und die "Refeudalisierung" der Gesellschaft sind Standardthemen in soziologischen Proseminaren. 

c) Piketty setzt "Ungleichheit" ohne Angabe von Gründen als ein Problem voraus, um sich das Nachdenken über sie zu ersparen. Mit dem paradoxen Ergebnis, dass seiner historischen Analyse die geschichtliche Tiefe fehlt. Die (relative) Ungleichheit ist heute so groß wie im 19. Jahrhundert? Mag sein. Aber was besagt das schon? War Ungleichheit, um es provozierend zuzuspitzen, je schöner als heute? Sind wir nicht alle krankenversichert, haben prima Jobs, gehen samstags ins Fußballstadion und genießen 30 Ferientage im Jahr? 

d) Piketty verzichtet nicht nur auf eine historische, sondern auch auf eine globale Perspektive. Er beschreibt mit viel Energie die zunehmende Ungleichheit in China. Dass der Kapitalismus dort 400 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit hat, ist ihm hingegen kaum der Erwähnung wert.

e) Piketty verzichtet auf eine theoretische Fundierung seiner Daten. Warum ist welche Ungleichheit problematisch? Haben wir die Ungleichheit von Bill Gates zu fürchten, die von Roman Abramowitsch oder beide gleichermaßen - und wenn ja: warum? Welche Macht zur Durchsetzung seiner Interessen hatte der Geldadel früher, welche heute? Warum ist der Wohlstand der Superreichen, deren Kapitaleinkommen größer sind als deren Arbeitseinkommen, "potenziell schrecklich", wenn es nur einen Superreichen unter 10.000 Bürgern gibt? Piketty gibt auf all diese ungestellten Fragen keine Antwort. Weil er, anders als Malthus, Ricardo, Marx, die er statistisch stolz zu übertrumpfen meint, auf eine Analyse des Kapitalismus verzichtet. Es macht aber einen Unterschied, ob sich das Kapital in Briefkastenfirmen von Ölmultis oder in den Händen von Staatsfonds autokratischer Länder konzentriert, die Anteile an Daimler kaufen - oder ob Warren Buffett damit Stiftungen gründet. 

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