Kapitalismuskritik

Die leidige Debatte um das Piketty-Buch

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Ökonomen auf Kindergarten-Niveau

Die Einkommen und Vermögen in Deutschland gehen immer weiter auseinander. Der Ruf nach mehr Staat ist verständlich - aber kontraproduktiv.

7. Noch blöder als Piketty stehen am Ende allerdings Pikettys Kritiker da. Sie bringen tatsächlich das Kunststück fertig, in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen Pikettys "Wahrheit" als (angeblich falsche) Auslegung von (angeblich falschen) Daten zu dekonstruieren, um ihm ihre eigene "Wahrheit" der (angeblich richtigen) Auslegung von (angeblich richtigen) Daten vorzuhalten:

"The exact level of European inequalitiy in the last fifty years is impossible to determine, as it depends on the sources one uses. However,... wealth concentration among the richest people has been pretty stable for 50 years..."

Das ist, mit Verlaub, nur noch peinlich. Meine Wahrheit stimmt! - Nein, meine! - Nein! - Doch! - Nein! - Doch! ... - das ist Kindergarten, das ist Sandkasten. Deshalb, noch einmal, liebe Ökonomen, ein für alle Mal: Es gibt in der Welt der Wirtschaft keine einzige Wahrheit, keine ewigen Gesetze und endgültigen Beweise, keine Kuznets-Kurven oder Kondratjeff-Zyklen, es ist in ihr kein reiner "Markt" anzutreffen und man hat auch noch keinen Menschen gesichtet, der sein Leben nach Maßgabe des Grenznutzens einrichtet. Adam Smith hatte noch keinen Schimmer vom Industriekapitalismus, als er den Markt in emanzipatorischer Absicht gegen den Feudalismus in Stellung brachte: Es ist schlicht unredlich, ihn zum Kronzeugen einer Wirtschaftsform zu machen, die er nicht einmal kannte. Friedrich August von Hayek hat sich seit den 1940er Jahren aus guten Gründen vor einem Sozialismus gefürchtet, der in Gestalt der Sowjetunion auf dem Vormarsch war: Es ist schlicht unredlich, seine Invektiven gegen den Sozialstaat, der ihm ein Vorbote des Sozialismus war, zu zitieren wie die Heilige Schrift. Und so in allem. Die Ökonomie folgt Moden, ihre Theorien sind ein Produkt der Zeit, die Theorien hervorbringen und Zeiten verändern, das ist alles - deshalb dürfen Ökonomen sich nicht wie Naturwissenschaftler (schon gar nicht in politischer Absicht) gerieren, sondern müssen sich wie Soziologen aufführen, die uns als datensammelnde, ihre Methoden ständig verfeinernde Beobachter im besten Sinne etwas (!) von der Welt erzählen - etwas, das nur so "wahr" ist wie die Zeit, in deren Horizont es gedacht wird. 

Das zu akzeptieren und das Unwissen gleichsam wissenschaftlich zu beglaubigen, ist schwierig, keine Frage. Selbst ein Zerstörungs-, Neuschöpfungs-, Dynamisierungs- und Offenheits-Genie wie Joseph Schumpeter hat der Versuchung nicht widerstehen können und gemeint, die Wahrheit der Wirtschaftswelt ließe sich tatsächlich in "Konjunkturzyklen" bannen. Und tatsächlich laufen ökonomische Großkaliber immer wieder in dieselbe Falle. Zuletzt Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff mit ihrer Behauptung, dass ein Land ab einer Verschuldungsquote von 90 Prozent Einbußen in seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erleide. Als ein Student den beiden Forschern Rechenfehler nachwies, waren deren Theorie und Reputation gleichermaßen beschädigt. Und das nicht, weil die Ergebnisse im Prinzip falsch sind. Sondern nur, weil Reinhart/Rogoff ihre Erträge unbedingt auf die "Wahrheit" einer Zahl bringen wollten. 

Und, was folgern wir daraus? Ganz einfach: Folgte die ökonomische Zunft fünf Grundregeln, wäre viel gewonnen und wir könnten uns die intellektuelle Unproduktivität von Reinhart/Rogoff- und Piketty-Debatten in Zukunft ersparen. Diese fünf Grundregeln lauten: 

Erstens: Halte deine Arbeit (so weitgehend wie möglich) frei von politischen Vorlieben!

Zweitens: Argumentiere gegen dich selbst!

Drittens: Fahnde nicht nach Beweisen!

Viertens: Stelle keine Gesetze auf! 

Fünftens: Versuche mehr zu verstehen und weniger zu erklären!

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