Richtig gute Laune kommt bei Jürgen Reinemuth in diesen Tagen auf, wenn er an der Tankstelle vorfährt. „Einen Euro und zwölf Cent für einen Liter Diesel, wann hat es das zuletzt gegeben?“, freut er sich. Doch die Freude über den billigen Sprit verfliegt rasch, wenn Reinemuth auf die eigenen Geschäfte zu sprechen kommt. Denn die könnten besser laufen. Reinemuth ist geschäftsführender Gesellschafter von Thaletec, einem mittelständischen Hersteller von Spezialtanks für die chemische und pharmazeutische Industrie. Zu seinen Kunden zählen Weltkonzerne wie BASF, Bayer, Dow und Roche.
Nicht, dass die Existenz des 190-Mann-Betriebs aus Thale auf dem Spiel stünde. Der Umsatz steigt leicht, immerhin. Doch das Unternehmen leidet unter dem weggebrochenen Geschäft mit Russland, das für zehn Prozent des Umsatzes stand. „Unsere Kunden in Russland haben aus politischen Gründen alle Aufträge auf Eis gelegt“, klagt Reinemuth. Die Lücke sei kaum durch neue Auftraggeber zu schließen. „Wir müssen unsere Investitions- und Beschäftigungspläne für 2015 daher auf den Prüfstand stellen.“ Allenfalls an den Ersatz alter Anlagen sei zu denken. Die Belegschaft will er halten, wenn es geht.
Die Russland-Krise hinterlässt hässliche Bremsspuren in den Bilanzen vieler deutscher Unternehmen – nicht nur bei Thaletec. Der Absturz des Rubel und die panikartigen Zinserhöhungen der Moskauer Zentralbank sind die Symptome einer Wirtschaft, die sich im freien Fall befindet – die aber immer noch drei Prozent der deutschen Exporte aufnimmt. Nächstes Jahr, so schätzen die Volkswirte der Commerzbank, werden sich die deutschen Ausfuhren nach Russland halbieren, nachdem sie schon jetzt um 22 Prozent unter dem Vorjahreswert liegen. Das wird Deutschland 0,3 Prozentpunkte Wachstum kosten, so die Berechnungen der Bank.
Russland-Krise, Absturz des Ölpreises, Mini-Zinsen, Achterbahnfahrt an den Börsen, schwacher Euro, drohende Neuwahlen in Griechenland, anziehende US-Konjunktur – es ist ein wildes Gemisch an Einflussgrößen und unerwarteten Ereignissen, das in diesen Tagen Konsumenten, Unternehmer und Börsianer ratlos macht. Hektisch versuchen die Analysten in Banken und Instituten durchzurechnen, wie sich das alles auf die Konjunktur auswirken könnte. Sicher ist nur, dass alles unsicher bleibt. Und in den Betrieben? Dort erweisen sich die Planungen für 2015 in diesen Tagen so wackelig wie Götterspeise.
Keine idealen Voraussetzungen also für einen nachhaltigen Aufschwung. In einer exklusiven Umfrage des Münchner ifo Instituts für die WirtschaftsWoche unter rund 500 Unternehmen aus Industrie, Bau, Einzelhandel und Dienstleistungen zeigt sich die Mehrheit der befragten Manager daher zurückhaltend, was die Geschäftsperspektiven für das nächste Jahr betrifft. Von den Befragten gehen 61 Prozent davon aus, dass die deutsche Wirtschaft 2015 allenfalls langsam wächst, 31 Prozent erwarten, dass sie stagniert, fünf Prozent befürchten gar, dass sie schrumpft.
Wackelige Erholung
Von einem neu erwachten Konjunkturoptimismus, wie er sich in Frühindikatoren andeutet, scheint in den Betrieben noch nicht allzu viel angekommen zu sein. Hoffnungen, Deutschland werde nach dem (vermeintlichen) Ende der Euro-Krise als Zugpferd der europäischen Konjunktur fungieren und den alten Kontinent quasi im Alleingang aus dem Krisenmorast schleppen, drohen sich als allzu forscher Wunschtraum zu entpuppen. Immer größer wird daher der Druck auf die Währungshüter der Europäischen Zentralbank (EZB), die Geldschleusen noch weiter zu öffnen, um der Wirtschaft unter die Arme zu greifen.
Doch Geld allein kann kein Wachstum herbeizaubern. „Was Deutschland und der Euro-Zone fehlt, sind Investitionen der Unternehmen“, sagt Elga Bartsch, Euro-Land-Chefökonomin der US-Bank Morgan Stanley. „Ohne Investitionen gibt es kein nachhaltiges Wachstum“, so Bartsch. Eine schnelle Belebung der Investitionen, so wünschenswert sie auch sein mag, ist allerdings nicht in Sicht. In den Krisenländern Europas bremsen hohe Schulden die Investitionsbereitschaft der Unternehmen. Und in Deutschland vermiest ihnen die wachstumsfeindliche Politik der großen Koalition die Lust am Investieren. So bleibt die Erholung wackelig – und das Rückfallrisiko hoch.
Der Mangel an Investitionen hat auch dazu geführt, dass die deutsche Konjunktur nach einem fulminanten Start im Frühjahr inzwischen auf die Kriechspur gewechselt ist. Nicht nur der Konflikt zwischen Russland und dem Westen sowie die Unruhen im Nahen Osten haben die Investitionsbereitschaft ausgebremst. Auch die abebbende Nachfrage aus den einst boomenden Schwellenländern in Asien und Lateinamerika hat sie dazu veranlasst, ihre Investitionspläne wieder in den Schubladen verschwinden zu lassen.
Denn die großen BRICS-Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika stehen für rund zwölf Prozent der deutschen Warenexporte. Im dritten Quartal strichen die Unternehmen unter dem Eindruck der schlappen Nachfrage aus diesen Ländern ihre Ausgaben für neue Maschinen und Anlagen um 2,3 Prozent zusammen. Dass die deutsche Wirtschaft nicht in die Rezession schlitterte, hat sie allein der ungebrochenen Kauflust der Bürger zu verdanken.
Boom Boom Konsum
Die meisten Analysten setzen daher weiter auf den deutschen Konsumenten als Stützpfeiler der Konjunktur. Doch können die Verbraucher die Wirtschaft alleine über Wasser halten, bis die Investitionen endlich anspringen? Noch läuft der Arbeitsmarkt gut, die Unternehmen stellen weiter Personal ein, wenn auch nicht mehr ganz so großzügig wie zuletzt. Dahinter dürfte auch die Sorge stehen, dass Arbeitskräfte wegen der demografischen Zeitenwende bald zur Mangelware werden. Wer sich jetzt nicht ausreichend Stammpersonal sichert, guckt in einigen Jahren in die Röhre.
So wollen 17 Prozent der vom ifo Institut befragten Unternehmen im nächsten Jahr zusätzliche Mitarbeiter einstellen, zwei Prozentpunkte mehr als Entlassungen planen. Überdurchschnittlich fällt die Einstellungsbereitschaft im Dienstleistungssektor aus, wo jeder fünfte Betrieb plant, seinen Personalbestand aufzustocken. In der Bauindustrie dagegen denken nicht einmal halb so viele Unternehmer daran, neue Mitarbeiter anzuheuern. Und: Wer einstellt, setzt vor allem auf Stammpersonal (87 Prozent).
Freude dürfte im nächsten Jahr bei den meisten Arbeitnehmern auch beim Blick auf den Gehaltszettel aufkommen. Die Ökonomen der Deutschen Bank rechnen für das nächste Jahr mit einem Anstieg der Tariflöhne von rund zwei Prozent. Das ist zwar etwas weniger als in diesem Jahr (über drei Prozent). Doch der Zuwachs liegt deutlich über der Teuerungsrate, die sich derzeit auf 0,6 Prozent beläuft. In den nächsten Monaten dürfte die Inflationsrate weiter sinken. Der Grund ist die steile Talfahrt der Ölpreise.
Billig, Billiger, Öl
Seit dem Sommer ist der Preis für ein Fass Öl der Sorte Brent von mehr als 115 Dollar (85 Euro) auf rund 60 Dollar (unter 50 Euro) gefallen. Hinter der Baisse am Ölmarkt stecken die schwächelnde globale Nachfrage sowie das deutlich höhere Angebot in Amerika. Dank der Fracking-Technologie holen die USA derzeit mehr als zwölf Millionen Fass Öl pro Tag aus der Erde, so viel wie kein anderes Land der Welt. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Saudis und andere Mitglieder des Opec-Kartells der Welt durch geschicktes Drehen an der Förderschraube hohe Preise diktieren konnten. Jetzt kämpfen die Scheichs gegen die USA um Marktanteile.
Wie der deutsche Haushaltsüberschuss zustande kam
Sie sind die wichtigste Einnahmequelle des Staates. Mit 329,5 Milliarden Euro machten sie gut die Hälfte der gesamten Erlöse aus. Das entspricht einem Plus von 3 Prozent. Die Einnahmen aus der Lohnsteuer wuchsen dabei um 5 Prozent, was vor allem der wachsenden Beschäftigung und steigenden Löhnen zu verdanken ist. Noch stärker kletterten die Einkünfte aus der Einkommenssteuer mit 8,3 Prozent, in die auch Steuern auf Mieteinnahmen oder Zinserträge einfließen. Bei der Gewerbesteuer (- 1,1 Prozent), der Kapitalertragssteuer (-1,0) und der Körperschaftssteuer (-6,8) stand dagegen ein Minus zu Buche. Wegen des robusten Konsums stieg das Aufkommen aus der Mehrwertsteuer um 3,7 Prozent.
Die Sozialbeiträge an den Staat - von der Arbeitslosen- bis zur Krankenversicherung - zogen um 3,4 Prozent auf 233,7 Milliarden Euro an. Auch dazu trugen höhere Löhne und eine steigende Beschäftigung bei. Die Löhne der gut 19 Millionen Tarifbeschäftigten erhöhten sich zum Beispiel im zweiten Quartal mit durchschnittlich 2,6 Prozent so kräftig wie seit über einem Jahr nicht mehr. Gleichzeitig wurden 42,5 Millionen Erwerbstätige gezählt - 340.000 mehr als ein Jahr zuvor.
Am deutlichsten erhöhten sich die Einnahmen des Staates - der an vielen Unternehmen beteiligt ist - bei den Ausschüttungen. Diese verdoppelten sich nahezu. Hauptursache hierfür ist eine deutlich gestiegene Überweisung der Bundesbank an den Bund: Sie schickte 4,6 Milliarden Euro ihres Gewinns nach Berlin - nach rund 600 Millionen ein Jahr zuvor.
Die Ausgaben des Staates erhöhten sich unterdessen im ersten Halbjahr um 2,5 Prozent auf 620,8 Milliarden Euro. Das meiste Geld gibt der Staat für monetäre Sozialleistungen aus - von Pensionen bis zu Arbeitslosen- und Kindergeld. Diese kletterten um 1,7 Prozent. Für seine Mitarbeiter gab der Staat 2,9 Prozent mehr aus. Die Bruttoinvestitionen - etwa für den Straßen- und Wohnungsbau - legten um 16,5 Prozent. Deutlich weniger musste für Zinsen aufgewendet werden: Diese Kosten fielen um 9,3 Prozent, da deutsche Staatsanleihen als sehr sicher gelten und Investoren dafür bereit sind, auf Rendite verzichten.
Indem sie den Weltmarkt fluten, versuchen die Saudis, den Preis für das schwarze Gold unter die Förderkosten der amerikanischen Fracking-Industrie zu drücken. Diese liegen je nach Region zwischen 40 und 80 Dollar je Fass. Ob das Kalkül, die US-Produzenten so vom Markt zu drängen, aufgeht, ist fraglich. Fahren die US-Unternehmen unter dem Eindruck der sinkenden Preise die Förderung zurück, dürfte der Ölpreis zwar wieder nach oben gehen. Dann würde es aber wohl nicht allzu lange dauern, bis sich Fracking wieder lohnt – und der Preis wieder sinkt. Daher könnten die Ölpreise in den nächsten Jahren wie an einem Jo-Jo auf und ab tanzen. Im Durchschnitt dürften sie jedoch niedriger liegen als in den vergangenen zehn Jahren.
Für Ölförderländer wie Venezuela, Russland, Nigeria, Irak und Iran ist das eine schlechte Nachricht. Denn sie benötigen Ölpreise von weit mehr als 80 Dollar, um ihre üppig bemessenen Sozialprogramme zu finanzieren, mit denen sie ihre Bevölkerung ruhig- und das Überleben ihrer Regime sicherstellen. So benötigt die Regierung in Venezuela einen Ölpreis von 118 Dollar, um ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Die Finanzmärkte taxieren die Wahrscheinlichkeit eines Staatsbankrotts Venezuelas daher auf 94 Prozent.
Auch für die Gläubiger Russlands steigt das Risiko, Geld zu verlieren. Zwar verfügt das Land mit knapp 400 Milliarden Dollar Fremdwährungsreserven über die viertgrößten Devisenbestände der Welt. Doch die könnten rasch aufgebraucht sein, wenn die Zentralbank weiter versucht, den Rubel zu stützen. Die Bankrottwahrscheinlichkeit für das Land liege daher bei 26 Prozent, heißt es an den Märkten. Kein Wunder, dass sich die Börsen der Ölförderländer auf Talfahrt befinden.
Der Westen gewinnt
Für Deutschland und die Weltwirtschaft insgesamt aber ist das billige Öl ein Gewinn. Denn deren wichtigste Wachstumszentren sind allesamt Ölimporteure. Holger Schmieding, Chefökonom der Berenberg Bank, betrachtet das billige Öl daher als „ein gewaltiges, nicht inflationäres Konjunkturprogramm für den Westen, das von den Ölförderstaaten bezahlt wird“. Dass die fehlenden Öleinnahmen dort zu sozialen Unruhen führen und auf diese Weise negativ auf die Weltwirtschaft zurückschlagen könnten, fürchtet Schmieding nicht. „Das billige Öl stärkt Europa, die USA, Japan, China und Indien, und es schwächt Russland, Iran, Saudi-Arabien und Venezuela. Dadurch macht es die Welt langfristig zu einem sichereren Ort“, so Schmieding. Und die deutsche Exportwirtschaft? Für die sind die Märkte in Europa und den USA viel wichtiger als die im Nahen Osten.
Bleibt der Ölpreis auf seinem aktuellen Niveau, mindert dies die Importrechnung Deutschlands um rund 30 Milliarden Euro, hat Andreas Rees, Ökonom der italienischen Bank UniCredit, ausgerechnet. Das entspricht einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Weil die Preise für Fernwärme und Gas verzögert auf den Ölpreis reagieren, zeichnen sich für die nächsten Monate weitere Entlastungen für die Bundesbürger ab.
Dazu kommt, dass Energie bei der Gewinnung von Agrarprodukten und Metallen eine große Rolle spielt, rund die Hälfte der Kosten entfällt auf sie. So drückt das billige Öl auch die Preise dieser Produkte nach unten. Zweitrundeneffekt heißt das im Ökonomenjargon. Der Bloomberg Commodity Index, der die Preise von 22 Rohstoffen misst, ist seit Jahresbeginn um insgesamt elf Prozent gesunken. Baumwolle hat sich seither um rund 30 Prozent verbilligt, Eisenerz um die Hälfte.
Jobkiller Mindestlohn
Anfang nächsten Jahres könnte daher die Teuerungsrate für die Lebenshaltung unter die Marke von null Prozent fallen. Für die Konsumenten wäre das ein willkommener Gewinn an Kaufkraft. Berechnungen der Konsumforscher der Nürnberger GfK zeigen, dass die Bundesbürger im nächsten Jahr im Schnitt über eine Kaufkraft von 21 449 Euro pro Kopf verfügen werden – 572 Euro mehr als in diesem Jahr. Die Volkswirte der Deutschen Bank rechnen daher damit, dass der Konsum auch 2015 mit einem realen Plus von 1,5 Prozent die Konjunktur stützen wird.
Der Schub könnte noch größer sein, gäbe es da nicht den Mindestlohn, der ab Anfang nächsten Jahres branchenübergreifend gilt. Zwar werden die Politiker in Berlin nicht müde, den Mindestlohn als Quell zusätzlicher Kaufkraft zu preisen. Das aber wäre nur der Fall, wenn sämtliche Begünstigten ihre Jobs behielten – eine ziemlich unrealistische Annahme. In einer aktuellen Umfrage des ifo Instituts unter 6300 Unternehmen gab jedes fünfte Unternehmen an, es werde mit Entlassungen auf den Mindestlohn reagieren.
In einer aktuellen Studie haben die Ökonomen Ronnie Schöb von der Freien Universität Berlin und Andreas Knabe von der Universität Magdeburg ausgerechnet, dass dem Mindestlohn 250.000 bis 570.000 Jobs zum Opfer fallen werden. Vor allem die gering Qualifizierten, deren Produktivität unter 8,50 Euro je Stunde liegt, dürften dann wieder bei den Arbeitsagenturen auf der Matte stehen.
Der wahre Flurschaden durch den Mindestlohn dürfte noch größer sein. Denn die Jobs, die die Firmen wegen des Mindestlohns gar nicht erst schaffen, tauchen in keiner Statistik auf. „Der Beschäftigungsaufbau dürfte von der Mindestlohneinführung im Jahr 2015 gestoppt werden“, resümieren die Ökonomen der Deutschen Bank. Sie rechnen für nächstes Jahr mit einem leichten Anstieg der Arbeitslosenquote von 6,7 auf 6,8 Prozent, 2016 wird sie sogar auf 7,1 Prozent springen.
Der Mindestlohn kostet nicht nur Arbeitsplätze, er gefährdet auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen. Nach Berechnungen der Commerzbank treibt er den Anstieg der Arbeitskosten während seiner zweijährigen Einführungsphase auf insgesamt mehr als vier Prozent in die Höhe – weit stärker als die Produktivität steigt (1,3 Prozent). „Das erodiert die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, in wenigen Jahren haben wir unsere Vorteile wieder verspielt“, warnt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank.
Der Euro geht auf Talfahrt
Die Firmen scheinen das zu ahnen. Fast jedes dritte von ifo befragte Unternehmen sieht in überzogenen Lohnsteigerungen ein großes Risiko für die Konjunktur. Noch verschleiert der schwache Euro das Problem. Seit Jahresmitte hat die Gemeinschaftswährung von knapp 1,40 auf 1,23 Dollar abgewertet, ein Minus von zwölf Prozent. In den nächsten Monaten dürfte der Abwärtstrend weitergehen. Denn zum ersten Mal seit 20 Jahren schicken sich Europa und die USA an, in der Geldpolitik getrennte Pfade einzuschlagen.
Ökonomen zu den Staatsanleihenkäufen der EZB
"Die EZB sollte keine Staatspapiere kaufen, denn dann würde sie die Zinsen der Wackelstaaten weiter drücken und sie anregen, sich noch mehr zu verschulden. Der Kauf wird von Artikel 123 des EU-Vertrages zu Recht verboten, weil er einer verbotenen Monetisierung der Staatsschulden gleichkommt. Man sollte auch bedenken, dass selbst die US-Notenbank Fed keine Staatspapiere von Gliedstaaten kauft. Kalifornien, Illinois oder Minnesota stehen am Rande der Pleite, und doch hilft die Fed ihnen nicht mit Krediten. Es ist schlichtweg unakzeptabel, dass die EZB meilenweit über die Fed hinausgeht, obwohl Europa den gemeinsamen Bundesstaat noch gar nicht gegründet hat. Die EZB-Politik treibt die Staaten Europas in Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse und wird längerfristig nichts als Streit und Spannungen erzeugen."
"Die EZB verfehlt ihr Mandat der Preisstabilität und ist dabei, ihr wichtigstes Gut zu verlieren: ihre Glaubwürdigkeit. In letzter Instanz ist der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB ein notwendiges Übel, um ihrem Mandat gerecht zu werden. Je zögerlicher die EZB handelt, desto weniger effektiv ihre Geldpolitik und desto höher die Risiken."
"Ich sehe derzeit keine Deflationsgefahren, die Staatsanleihekäufe rechtfertigen könnten. Ohne die notwendigen Anpassungsprozesse in den Peripherieländern und dem ökonomisch vorteilhaften Ölpreisrückgang läge die aktuelle Inflationsrate in etwa um einen Prozentpunkt höher, als es derzeit der Fall ist. Die Jagd nach Rendite und die Risikobereitschaft an den Finanzmärkten würden weiter erhöht, der Anreiz, fürs Alter langfristig zu sparen, würde weiter vermindert."
"Seit Anfang 2009 ist der Zuwachs der Geldmenge M3 mit durchschnittlich 1,7 Prozent weit hinter dem Referenzwert von 4,5 Prozent zurückgeblieben, den einst EZB und Bundesbank für sinnvoll hielten. Entsprechend schwächelt die Konjunktur, während der Preisauftrieb auch ohne Öl gefährlich nah an die Deflation herankommt. In dieser Lage muss die EZB mit einer Offenmarktpolitik gegenhalten, also mit dem Kauf von Anleihen auf dem offenen Markt, der auch Staatsanleihen umfassen sollte."
"Es ist nicht notwendig, nun auch noch mit breit angelegten Staatsanleihekäufen auf den Ölpreisverfall zu reagieren. Die EZB sollte nicht nur auf Deflationsrisiken schauen, sondern auch berücksichtigen, dass sie als Käufer von Staatsanleihen den Regierungen zusätzlichen Anreiz gäbe, notwendige Strukturreformen aufzuschieben."
Während Janet Yellen, Chefin der US-Notenbank Fed, baldige Leitzinserhöhungen in Amerika in Aussicht stellt, will EZB-Chef Mario Draghi die Geldschleusen weiter öffnen. Anfang nächsten Jahres könnte die EZB damit beginnen, in großem Stil Staatsanleihen zu kaufen und Zentralbankgeld in den Bankensektor zu spülen. Das wird die Renditen für Euro-Anlagen weiter in den Keller drücken und Investoren vergraulen. Ende nächsten Jahres könnte der Euro dann nur noch 1,15 Dollar wert sein, erwarten die Ökonomen der Commerzbank. Die Experten der US-Bank Goldman Sachs sehen den Euro mittelfristig auf die Parität zum Dollar zusteuern. So wird der Euro mehr und mehr zur Weichwährung.
Schlechtes Geschäft für Deutschland
Auf den ersten Blick scheint das positiv für die Konjunktur zu sein. Denn je schwächer der Euro, desto billiger deutsche Produkte für Käufer aus Drittländern. Im Schnitt der nächsten vier Quartale könnte der Billig-Euro das Wirtschaftswachstum daher um rund einen halben Prozentpunkt ankurbeln, prognostizieren die Ökonomen der Commerzbank. Doch auf mittlere Sicht ist der schwache Euro ein schlechtes Geschäft für Deutschland. Denn er verteuert nicht nur die Einfuhren und den Urlaub im Ausland. Er schmälert auch die Kostendisziplin in den Unternehmen. Carsten Brzeski, Chefökonom der ING-Diba, sieht in dem schwachen Euro und dem billigen Öl daher einen „vergifteten Apfel“ für Deutschland. „Der Konjunkturschub droht die notwendigen Strukturreformen zu verzögern“, warnt Brzeski.
Die Sorge ist begründet. Seit Jahren herrscht in Deutschland Stillstand an der Reformfront. Statt das Land fit zu machen für die Zukunft, rollt die schwarz-rote Regierung systematisch die Reformen aus der Schröder-Ära zurück. Das hat Deutschland – Studien der Weltbank zufolge – im Standortwettbewerb ins Mittelfeld zurückkatapultiert. Berechnungen der Commerzbank auf Basis der Weltbank-Daten zeigen, dass der Abstand Deutschlands zu einem hypothetischen Top-Standort in der EU heute bei 34 Prozent liegt. 2009 lag die Lücke erst bei 26 Prozent. Reformorientierte Länder wie Irland und Portugal sind längst an Deutschland vorbeigezogen. „Geht diese Entwicklung weiter, könnten wir in fünf Jahren dort stehen, wo sich heute Frankreich befindet“, warnt Krämer.
Investitionen? Nein danke!
Die sich verschlechternden Standortbedingungen haben sich wie Mehltau auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmen gelegt. In der ifo-Umfrage geben 24 Prozent der Befragten an, 2015 weniger zu investieren als 2014 – ebenso viele, wie mehr investieren wollen. Per saldo heißt das Stagnation bei den Investitionen. Größtes Investitionshemmnis sind den Unternehmen zufolge (51 Prozent aller Nennungen) die schlechten Rahmenbedingungen am Standort Deutschland. Das beschränkt sich nicht auf den Mindestlohn. Überhöhte Energiekosten, geringeres Arbeitskräftepotenzial wegen der Rente mit 63 und zunehmende Regulierungen wie die Frauenquote und Pflegezeitansprüche wirken als Investitionsblocker. „Heute sind neben den Großkonzernen auch die Mittelständler global aufgestellt“, sagt Klaus Bauknecht, Ökonom der Düsseldorfer IKB-Bank. „Wenn deren Energiekosten in Deutschland durch die Decke gehen und drei Mal so hoch sind wie in Amerika, dann investieren die in den USA statt in Deutschland“, erklärt Bauknecht.
So wie Thaletec. Geschäftsführer Reinemuth folgt seinen Auftraggebern und baut zurzeit eine eigene Produktion in den USA auf. Dabei hat der Spezialkesselhersteller aus dem Harz noch Glück gehabt. Sein Betrieb erfüllt die Kriterien, um als energieintensiv eingestuft zu werden. So profitiert er von den Ausnahmeregeln des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes. „Ohne diese Erleichterung wären unsere Energiekosten um 800.000 Euro pro Jahr in die Höhe geschossen“, sagt Reinemuth. „Dann hätten wir keine andere Wahl gehabt, als 20 Mitarbeiter zu entlassen.“ Andere Unternehmen in Thaletecs Nachbarschaft hatten weniger Glück. Sie werden nicht als energieintensive Betriebe eingestuft und müssen deutlich höhere Stromkosten tragen. „Die leiden jetzt richtig“, sagt Reinemuth.
Noch verschließt die Bundesregierung die Augen vor dem schleichenden Verfall der Standortattraktivität Deutschlands und sonnt sich im Schein sprudelnder Steuereinnahmen. Die Frage ist nur, wie lange das gut geht. „Deutschland kann konjunkturell eine Zeit lang von niedrigen Zinsen und dem schwachen Euro zehren“, sagt Commerzbanker Krämer. Doch spätestens in der nächsten Krise schlagen die Probleme durch. „Dann“, so fürchtet Krämer, „werden wir uns nicht mehr so schnell erholen.“