Wenn sich drei Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammentun, kommt dabei nicht immer etwas launenhaft Lesbares heraus. Dass vor allem Walter Krämer über das trockene Thema Statistik sehr spannende Bücher schreiben kann, hat der Dortmunder Professor mit seinen Bestsellern "So lügt man mit Statistik" und "Statistik verstehen" schon vor vielen Jahren bewiesen.
Nun hat sich Krämer mit Thomas Bauer, Ökonom beim Forschungsinstitut RWI Essen und dem Psychologen Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zusammengetan: Ihr Buch „Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet“ bietet entsprechend mehr als eine Abhandlung über Statistik und die Unfähigkeit, mit ihnen umzugehen.
Die drei Autoren erklären anhand von wichtigen gesellschaftlichen Themen, wie die Bürger hinters Licht geführt werden - sei es aus Absicht oder aus bösem Willen. Anstatt "nur" den Missbrauch der Statistik darzustellen (was Krämer zur Genüge in seinen früheren Büchern tat, an die man sich auch hier stellenweise erinnert), stellen sie mit der Summe ihres Wissens die Dinge richtig - und machen dieses Buch so zu einem lesenswerten. Ein Auszug:
Die Krebsgefahr nimmt zu, immer mehr Menschen erkranken und sterben daran, in Deutschland inzwischen jeder Vierte, und der Weltkrebsbericht der Weltgesundheitsorganisation sieht für 2025 jährlich mehr als 20 Millionen Neuerkrankungen an Krebs voraus.
Bald ist Krebs vielleicht sogar die weltweit häufigste Todesursache überhaupt.
Kein Wunder also, dass mit solchen Zahlen so trefflich Angst zu machen ist. Und wie nicht anders zu erwarten, hat auch der letzte Weltkrebsbericht die üblichen Verunsicherungen und Forderungen nach staatlichen Eingriffen zur Eindämmung der Bedrohung ausgelöst. Aber wieso eigentlich?
Schalten wir doch einmal – bei diesem Thema sicher nicht leicht – unsere Emotionen und unsere Ängste eine Weile ab und stattdessen unsere grauen Gehirnzellen zum Denken ein. Dann wird nach einer Weile klar, dass diese Zahlen ein geradezu notwendiges, wenn auch trauriges Nebenprodukt einer im Prinzip durchaus erfreulichen Entwicklung sind.
Denn je mehr Menschen in einem Land oder in einer Region an Krebs sterben oder erkranken, desto länger leben sie dort auch, desto höher ist dort die an der Lebenserwartung gemessene Umweltqualität und desto höher der Standard der Hygiene und Medizin.
Wo leben? In einem Land mit wenig Krebs oder mit viel?
Die folgende Grafik setzt einmal für eine Auswahl von Ländern die Lebenserwartung und den Anteil der Menschen, die an Krebs versterben, in Relation. Wie zu sehen, meldet man die weltweit höchste Lebenserwartung in Japan und in der Schweiz.
Gleichzeitig ist dort auch die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, am höchsten. In Südafrika werden die Menschen im Durchschnitt nur 50 Jahre alt. Und weniger als 10 Prozent sterben an Krebs. Wo möchten Sie lieber leben? In einem Land mit wenig Krebs oder mit viel?
Auch wenn Krebs für den Einzelnen eine sehr ernste, häufig sogar lebensbedrohliche Diagnose darstellt und die Erforschung der Ursachen zu Recht eine hohe Priorität genießt, ist eine hohe Krebsmortalität ein eher positives Qualitätsmerkmal.
Sterben in einem Land viel Menschen an Krebs, geht es den Menschen eher gut, sterben wenige Menschen an Krebs, geht es den Menschen eher schlecht. Teilt man die an Krebs Verstorbenen nach Altersklassen ein, enthüllt sich sogar das Gegenteil einer wachsenden Krebsgefahr.
Die folgende Tabelle stellt für die Jahre 1970 und 2012 sowie für verschiedene Altersklassen die Zahlen der an Krebs verstorbenen deutschen Frauen einander gegenüber(für Männer gilt Ähnliches).
So viele von je 10.000 deutschen Frauen verschiedener Altersklassen sind an Krebs gestorben:
Alter | 1970 | 2012 |
0-4 | 7 | 3 |
5-9 | 6 | 2 |
10-14 | 4 | 1 |
15-19 | 6 | 2 |
20-24 | 8 | 3 |
25-29 | 12 | 5 |
30-34 | 21 | 10 |
35-39 | 45 | 21 |
40-44 | 84 | 40 |
45-49 | 144 | 74 |
50-54 | 214 | 138 |
55-59 | 305 | 215 |
60-64 | 415 | 316 |
65-69 | 601 | 454 |
70-74 | 850 | 590 |
75-79 | 1183 | 811 |
80-84 | 1644 | 1154 |
Wie zu sehen, nimmt die Krebsmortalität mit steigendem Lebensalter dramatisch zu, und zwar zu früheren Zeiten genauso wie heutzutage. Das ist nicht neu und sollte niemanden überraschen. Überraschend ist vielmehr etwas anderes: In allen Altersklassen geht die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, mit der Zeit zurück! (Zumindest für deutsche Frauen und die Jahre 1970 und 2012.)
Das macht die Warnung vor der Krebsgefahr nochmals um mehrere Grade unglaubwürdiger. Denn von einer „Explosion“ der Todesursache Krebs kann sogar aus zwei Gründen keine Rede sein. Die mit Abstand wichtigste Ursache für die insgesamt zunehmende Mortalität ist einmal der mehr als erfreuliche Umstand, dass immer mehr Menschen in die Altersgruppe 80 plus hineinwachsen, und darüber sollte man sich doch eher freuen.
Systematische Desinformation: Ursachen der Krebsgefahr
Und dann geht sogar in diesen hohen Altersklassen das Todesrisiko Krebs zurück! Es bleibt zwar absolut gesehen hoch, war aber früher höher. Nun zeigt diese Tabelle nur die an Krebs Verstorbenen, nicht die an Krebs Erkrankten. Nach dem Zentrum für Krebsregisterdaten am Robert Koch Institut ist die Zahl der Krebsneuerkrankungen zwischen 2000 und 2010 bei Männern um 21 Prozent und bei Frauen um 14 Prozent angestiegen.
Doch auch diese Zunahme ist überwiegend mit unserer zunehmenden Alterung zu erklären. Die um Alterseffekte korrigierten, sogenannten altersstandardisierten Erkrankungsraten haben sich bei Männern nicht verändert und sind bei Frauen nur leicht angestiegen (7 Prozent). Und dieser Anstieg ist, so das Robert Koch Institut, vor allem auf das Mammografie-Screening zurückzuführen.
Aber selbst ein „echter“ Anstieg der um Alterseffekte korrigierten Zahl der Krebsneuerkrankungen wäre immer noch kein Grund zur Panik. Wie man etwa aus Autopsie-Studien weiß, leidet einer von fünf 50-jahrigen Männern in den USA an einer Form von Prostatakrebs. Wenn diese Männer zehn Jahre langer leben, sind es schon zwei von fünf. Werden sie über 70 Jahre alt, dann sind es drei von fünf. Und falls diese Männer über 80 Jahre alt werden, sind es sogar vier von fünf. Aber sterben tun daran nur etwa 3 Prozent. Das heißt, wenn ein Mann das Glück hat, lange zu leben, dann muss er damit rechnen, eine Form von Prostatakrebs zu bekommen. Nur wird er wahrscheinlich mit dem Krebs sterben und nicht am Krebs.
Eine weitere systematische Desinformation, ob aus Absicht oder Schlamperei, erleben wir auch zu den Ursachen von Krebs. Denn natürlich ist ein hohes Lebensalter als solches keine Krebsursache, es erleichtert nur den wahren Ursachen, ihre Wirkung zu entfalten. Und da gibt es keinen Mangel an Kandidaten.
Die Eingabe des Stichworts „krebserregend“ bei Google etwa liefert die folgende beeindruckende Liste von Feinden unseres Lebens (nur Auszüge, alphabetisch sortiert): Ablagerungen in Kaffeebohnen, aggressive Cholesterol-Senkung, Alkohol, Ameisensäure, Anilin, Aroma-Chemikalien, Arsensaure, Asbest, Babyschnuller, Benzol, Blaugel, Blei, Buchenstaub, Cannabis, Chlor, Cobalt, Computermonitore, Deosprays, Dieselmotor-Emissionen, Dioxin, Duftbäume im Auto.
Energiesparlampen, fernöstliche Kräutermischungen, Formaldehyd, gegrillte Mettwürstchen, Glasfasern, Handystrahlung, Holzstaub, Heizöl, HP-Viren, Kartoffelchips, keramische Mineralfasern, Klapprechner, Kohlenmonoxid, Kondome, Laserdrucker, Lebensmittelzusatzstoffe, Linkshändigkeit, Luftballons, Mineralwolle, Neurodermitis-Salben, Nickel, Oralsex, Ostzonensuppenwürfel („Ostzonensuppenwürfel machen Krebs“ – das war tatsächlich einmal eine Schlagzeile in der Bild), Ozon, Passivrauchen, Parfüm, PCB, Pommes frites.
Quarz, Rapsöl-Abgase, rohes Rindfleisch, Rohöl, scharf angebratenes Fleisch, Schichtarbeit, Schimmelpilze, Schminke, Sojabohnen, Speckstein, Stammzellen, Tabakrauch, Tätowierungen, Tupperware, Übergewicht, zu viel UV-Strahlen, zu wenig UV-Strahlen, Venylacetat, WLAN-Anlagen, Zigaretten-Zusatzstoffe, Zimtsterne und Zitronensäure.
Es scheint heute fast nichts mehr zu geben, was wir anfassen, tun und lassen, essen oder anziehen, das nicht im Zweifelfall auch Krebs erzeugt.
Wo Warnungen nur ablenken
Diese Warnungen mögen im Einzelfall durchaus ihre Berechtigung besitzen, lenken aber im Großen und Ganzen von den eigentlichen Krebsgefahren eher ab. Insbesondere reiten sie zu oft auf der Technik, der Chemie, der Industrie herum und übersehen dabei die wahren Ursachen für die meisten Krebserkrankungen, die ganz woanders zu suchen sind.
Die nebenstehende Tabelle, einem Aufsatz der britischen Epidemiologen Doll und Peto entnommen, teilt alle Todesfalle durch Krebs in den USA nach den vermuteten Ursachen auf.
Ursache Krebsmortalität in den USA | % aller Todesfälle |
Ernährung | 35 % |
Rauchen | 30 % |
Infektionen | 10 % |
Sexualverhalten | 7 % |
UV-Licht und nat. radioakt. Strahlung | 5 % |
Beruf | 4 % |
Luftverschmutzung | 2 % |
Medizintechnik | 1 % |
Industrieprodukte | < 1 % |
Nahrungsmittelzusätze | < 1 % |
Diese Zahlen sind schon einige Jahre alt und betreffen ein anderes Land, sehen aber vermutlich für das aktuelle Deutschland nicht viel anders aus. In einem neueren Aufsatz in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature finden sich diese Zahlen im Wesentlichen bestätigt. Danach sind etwa Fettleibigkeit und Alkohol für insgesamt 20 bis 30 Prozent aller Krebserkrankungen verantwortlich zu machen.
„Unsere Analyse des Ausmaßes synthetischer Gifte in Trinkwasser und synthetischer Pestizide in Nahrungsmitteln zeigt, dass diese im Vergleich zu natürlichen Krebserregern vernachlässigt werden können“, schreibt auch der weltweit wohl angesehenste Biochemiker Bruce N. Ames in Science, der renommiertesten aller Wissenschaftszeitschriften überhaupt.
„Dieses Fazit stimmt auch mit epidemiologischen Untersuchungen überein. Zwar sollten wir bei jeder Art von Krebserregern Vorsicht walten lassen, aber wir brauchen ein Gleichgewicht zwischen einer verbreiteten Chemophobie mit ihren assoziierten hohen Kosten (und geringem Nutzen) und einem vernünftigen Management von Industriechemikalien aller Art.“
Von einem solchen Gleichgewicht sind wir aber in Amerika, und erst recht in Deutschland, noch weit entfernt. Nach Ames und Koautoren übertreffen die natürlichen, als krebserregend identifizierten Pestizide und Lebensmittelgifte in unserer Ernährung (Ethylalkohol in Bier und Wein, Hydrazine in Pilzen usw.) die künstlichen Zusatze bei Weitem sowohl an Menge als auch an Gefährlichkeit. Und nach Auskunft neuerer Arbeiten hat sich der chemieinduzierte, ohnehin schon minimale Anteil aller Krebserkrankungen inzwischen nochmals weiter reduziert.
Auszug aus:
Thomas Bauer, Gerd Gigerenzer und Walter Krämer
„Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“
Erschienen am 14.August im Campus-Verlag, Frankfurt/New York
Preis: 16,99 Euro
ISBN: 978-3-593-50030-0