Mobiles Mini-Labor Wie der Gentest per Handy Leben rettet

Gentests sind teuer und aufwändig? Das ist bald Vergangenheit. Dann verrät der Genscan per Handy im Handumdrehen, wer gesund und wer krank ist. IT-Konzerne wie Apple, SAP oder IBM steigen in das Geschäft ein.

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DNA Crispr-Cas9 Gentechnik Genom Quelle: dpa

Wer bei Erbgutanalysen an riesige Labore mit großen Automaten denkt, lebt in der Vergangenheit. Der Genscanner der Zukunft ist mobil, hat einen USB-Anschluss, passt in jede Hosentasche und ist keine Science-Fiction mehr: Das britische Start-up Oxford Nanopore bietet – weltweit einzigartig – so ein Gerät namens Minion für knapp 900 Euro Forschern bereits zum Testen an.

Das Winzlabor im Format eines alten Nokia-Handys zu bedienen ist ein Kinderspiel: Der Besitzer klappt es auf und träufelt ein wenig zuvor aufbereitete Spucke oder Blut in eine kleine Öffnung. Im Innern wird das Erbgut, das strickleiterartige Doppelhelix-Molekül DNA, entlang der Mitte in zwei Einzelfäden gespalten. Und dann wie eine Perlenschnur durch ein winziges nur wenige Nanometer, dem Millionstel Teil eines Millimeters, großes Loch gezogen. Dabei rutschen die Buchstaben des Gencodes einzeln durch die Nanopore und erzeugen ein typisches elektrisches Signal, das ein Chip erkennt.

Erste Nutzer schwärmen von ganz neuen Möglichkeiten, die das Leichtgewicht bietet. Ärzte könnten mit der mobilen Analyseeinheit selbst in entlegensten Gebieten schnell herausfinden, welcher Erreger einen Menschen erkranken ließ, und sofort die richtigen Medikamente geben.

Noch bedeutender: Mit solchen simpel zu bedienenden Minilaboren kann bald auch jeder Laie sein Erbgut zu Hause untersuchen. Einmal in den Handyaufsatz gespuckt – und fertig. Anschließend kann er die Ergebnisse nach Lust und Laune mit der Familie, Freunden oder dem Hausarzt teilen. So wie es viele heute schon mit ihren Fitnessdaten tun oder dem Rhythmus ihres Herzschlags. Die Selbstvermessung des Menschen, seit dem Boom der Tracking-Bänder und smarten Uhren ein immer beliebterer Trend, stieße in eine ganz neue Dimension vor.

Die Demokratisierung des Erbguts

An entsprechenden Geräten für jedermann arbeitet Nanopore bereits. Clive Brown, Technik-Vorstand der 250 Mitarbeiter starken Firma, sagt: „Wir verschmelzen Biologie und Informationstechnik.“

Mit dieser Idee sind die findigen Briten nicht allein: Auch Größen wie der Schweizer Diagnostik- und Pharmakonzern Roche setzen auf Chips mit Nanoporen. Noch entscheidender: IT-Konzerne wie IBM oder SAP steigen in die Erbgutanalyse ein. Ernst zu nehmenden Gerüchten zufolge bereitet auch Apple den Schritt gerade vor. Mit solchen Anbietern könnte die Erbgutanalyse zum echten Massenphänomen werden. Denn sie verfügen über genügend Rechenpower, um die riesigen Mengen an Erbdaten auszuwerten. Und sie haben – anders als jedes Biotech-Start-up – Zugang zu Millionen Kunden. Gerade die Marketingmaschine Apple mit weltweit 750 Millionen verkauften iPhones könnte sich erneut als Trendsetter erweisen.

Gentests für alle würden nicht nur die Medizin radikal verändern. Sie hätten auch Folgen für die Gesellschaft insgesamt (siehe folgende Übersicht):

Die Folgen von Gentests für alle

Daher ist der Schritt der IT-Firmen in Richtung Genforschung logisch und konsequent. Nach Schätzungen des US-Netzwerkausrüsters Cisco wird die Zahl der analysierten Genbuchstaben in diesem Jahr auf eine Trillion anwachsen: eine Zahl mit 18 Nullen. Allein um diese Informationen zu speichern, wären 1,5 Milliarden DVDs nötig, der Stapel wäre 1800 Kilometer dick und würde von Berlin bis Barcelona reichen. Und er wird immer dicker, weil die Preise für die Analyse kompletter Genome auch in klassischen Sequenzierlabors inzwischen auf wenige Hundert Euro gefallen sind.

Attraktiv ist das weltweit boomende Geschäft mit der Gesundheit allemal, auch für Datenkonzerne. Bis vor Kurzem haben sich Apple, Google und viele andere Anbieter mit relativ unbedeutenden Gesundheits-Apps rund um Fitness, Schlaf oder Kalorien abgegeben, sagt Markus Müschenich, der Vorstand des Bundesverbands Internetmedizin. Er nennt das „funny health“. Nun würden die IT-Giganten den ernsthaften Gesundheitsmarkt erstürmen und wollten mit „serious health“ den Patienten in seinem Alltag erreichen. Der Alltag, in dem die Patienten bislang von der traditionellen Gesundheitsbranche allein gelassen wurden.

Gentest als Lebensretter

So bereitet Apple Insidern zufolge vor, DNA-Daten in seine Gesundheits-App HealthKit zu integrieren. Von dort aus kann sie der Nutzer dann via Internet seinem Arzt oder einem Forschungsinstitut übermitteln – zusammen mit Blutdruckwerten, den Daten von Fitnessarmbändern oder einem Arzneitagebuch. Das iPhone wird so zur elektronischen Krankenakte, zur zentralen Plattform für alle Gesundheitsinfos. Wer wechselt dann noch zur Android- oder Windows-Konkurrenz, wenn alle medizinischen Daten auf Apples Servern liegen? Effektiver lassen sich Kunden kaum binden. Und nebenbei an Zusatzdiensten verdienen.

Statt die neue Konkurrenz zu fürchten, freuen sich viele der Unternehmer, die bisher schon in dem Feld tätig sind, über den Einstieg der IT-Riesen „Auch wenn ich es sehr bedenklich finde, dass ausgerechnet diese Datenkraken Geninfos sammeln wollen, sind genau sie es, die eine funktionierende Infrastruktur für die Bürger aufbauen können“, sagt etwa die Frankfurter Humangenetikerin Daniela Steinberger. Genau daran hapert es bisher gewaltig, denn die wenigsten Ärzte wollen die Medizin demokratisieren und ihr Deutungsmonopol aufgeben.

Wie stark die Kosten für die Entschlüsselung eines Genoms gefallen sind (zum Vergrößern bitte anklicken)

Steinberger weiß, wovon sie spricht. Das 2008 von der Professorin gegründete Unternehmen Biologis offerierte Privatpersonen die Genanalyse. Zum Beispiel, um zu erfahren, wie der eigene Körper bestimmte Medikamente verarbeitet. Die Nachfrage entwickelte sich schleppend. Denn selbst wenn Ärzte Erbgutuntersuchungen in Auftrag gaben, reichten nur zehn Prozent der Weißkittel die Zugangscodes zu den Ergebnissen auch an ihre Patienten weiter.

Supercomputer soll Datenschatz heben

Jetzt startet Steinberger zusammen mit der Deutschen Telekom eine neue Offensive: Die eben vereinbarte Kooperation bietet Nutzern den Zugang auf ihre Gendaten in einer privaten Cloud, die auch den strengen deutschen Datenschutzrichtlinien genügt.

Bisher waren Interessierte weltweit auf US-Anbieter wie etwa den kalifornischen Pionier 23andMe angewiesen. Per Internet-Formular bestellen Kunden bei der Firma ein Teströhrchen, das sie mit einer Speichelprobe zurücksenden. Seit 2006 rekrutierte 23andMe so bereits 900.000 Nutzer.

Formen der Krebs-Therapie

Auf derartige Datenschätze hat es etwa der IT-Konzern IBM abgesehen, der eng mit Apple kooperiert, und sie mithilfe seines Supercomputers Watson nutzen will. Der durchforstet binnen Sekunden Millionen Seiten wissenschaftlicher Literatur. „Was einen Mediziner Wochen an Arbeit kostet“, sagt Steve Harvey, Manager der Watson-Health-Gruppe, „schafft er binnen Minuten.“ Seit Kurzem füttern IBM-Forscher den schlauen Rechner mit Genom-Daten von Krebszellen. Watson gleicht sie mit Unmengen an Studien ab. Und gibt Ärzten Auskunft, welche Therapien und Medikamente bei anderen Patienten am besten geholfen haben.

Die Genmedizin der Zukunft, glaubt Harvey, sei auch eine Medizin der denkenden Maschinen. US-Unternehmen wie Pathway Genomics wollen die Analyse-Power von Watson nutzen, um den Nutzern seiner App individuell zu raten, wie sie am effektivsten abnehmen oder Sport treiben.

An ähnlichen Services in der Krebsmedizin arbeitet auch die deutsche Qiagen aus Hilden bei Düsseldorf, Pionier bei Test-Kits für DNA-Proben. Konzernchef Peer Schatz meint: „Ärzte wollen keine unnötige Datenflut, sondern Erkenntnisse, die für die weitere Behandlung des Patienten wichtig sind.“

Interpretationsautomaten würden ihre Kunden allerdings nicht trauen, sagt Qiagen-Produktmanagerin Anika Jöcker, weil sie häufig noch viel zu viele Fehler machten. In der Medizin darf das nicht passieren, sagt Jöcker: „Bei einer Krebstherapie muss die Analyse absolut verlässlich sein.“

Genau das nimmt die Heidelberger Firma Molecular Health für sich in Anspruch. Seit zehn Jahren füttern deren Experten Rechner mit Informationen zu Genen, Krankheiten und Medikamenten. Das Ganze läuft auf der neuen, schnellen Hana-Datenbank des Walldorfer Softwarekonzerns SAP, dessen Mitgründer Dietmar Hopp Hauptinvestor bei Molecular Health ist.

Gerade rettete die Firma dem krebskranken Belgier Paul Janssen (Name geändert) das Leben: Der 50-jährige Familienvater hatte mit seinem Lungenkrebs plötzlich einen schweren Rückschlag erlitten. Er konnte kaum noch atmen. Dessen Ärzte waren ratlos und wandten sich an Molecular Health. Die entdeckten, dass eine winzige Änderung im Erbgut des Tumors die bisherige Therapie nicht mehr wirken ließ. Zum Glück spuckte die Heidelberger Datenbank auch aus, dass der Pharmakonzern Pfizer gerade ein neues Medikament entwickelt, das selbst mit solchen Krebsgeschwüren klarkommt.

Seit zwei Wochen ist Janssen Teilnehmer einer Studie für das neue Medikament. Damit geht es ihm so gut, dass er jüngst seine Kollegen im Büro überraschte und gerade spontan nach Barcelona in Urlaub geflogen ist.

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