Annie-France Looses sollte sich freuen. Jeder erwartet das jetzt von ihr. Schließlich hat Frankreich gerade als erstes Land weltweit ein Gesetz verabschiedet, das es Supermärkten verbietet, Nahrungsmittel wegzuwerfen. Zehn Millionen Menschen, die heute Schwierigkeiten haben, sich Kraft eigener finanzieller Mittel gesund zu ernähren, sollen im ganzen Land davon profitieren. So stand es in den Zeitungen. So berichteten es die Radio- und Fernsehreportagen.
Eine tolle Nachricht also für Madame Looses, die in der südwest-französischen Stadt Toulouse die Tafel für Bedürftige leitet. Das fanden jedenfalls auch Verbraucherzentralen und Grünen-Politiker in Deutschland. Sie forderten, dem Beispiel der Nachbarn unverzüglich zu folgen.
Doch Annie-France Looses kann sich nicht so recht freuen. "Natürlich bin ich auch dafür, dass weniger Lebensmittel verschwendet werden," sagt die 65-Jährige. "Aber wir Betreiber der Tafeln hätten uns gewünscht, dass das Gesetz uns die finanziellen Mittel an die Hand gibt, diese Nahrungsmittel auch einzusammeln." Das sei aber das große und entscheidende Manko, klagt sie. "Wir haben weder die personellen noch die finanziellen Mittel, um alle Supermärkte abzufahren. Wir bräuchten mehr Lastwagen, mehr Kühlhäuser für die Lagerung und dann natürlich auch mehr Freiwillige, die diese Arbeit übernehmen wollen."
Die Tafel in Toulouse unterstützt derzeit rund 16.000 Menschen mit 6,6 Millionen Essensausgaben im Jahr. 2000 Tonnen Nahrungsmittel hat die Banque Alimentaire vergangenes Jahr bei den Spendern abgeholt und an Bedürftige verteilt. Mit den derzeit vorhandenen Mitteln könnten womöglich 1000 Tonnen zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Schwierigkeiten bereitet weniger der Abtransport umfangreicher Ladungen, wie sie die großen Verkaufsflächen am Stadtrand zur Verfügung stellen können. Das Problem, sagt Looses, sei vielmehr, die zahlreichen kleineren Supermärkte in den Innenstädten abzuklappern.
So wie Annie-France Looses geht es vielen Tafelbetreibern in Frankreich. Amorce, ein gemeinnütziger Verein aus gut 800 Gemeinden, Organisationen und Unternehmen, der sich der Verwertung von Müll und einem besseren Energiemanagement verschrieben hat, hat zusammen mit der staatlichen Umwelt- und Energieagentur Ademe eine Untersuchung für die Großräume Grenoble in den Alpen und Tours in Zentralfrankreich durchgeführt. Demnach könnten in Grenoble 14.000 Tonnen Lebensmittel jährlich gespendet und verteilt werden. In Tours wären es 15.000 Tonnen.
Nur acht Prozent der potenziell verfügbaren Menge wird eingesammelt
Aktuell werden aber lediglich acht Prozent dieser potenziell verfügbaren Menge eingesammelt. Es fehlten Fahrer, geeignete Transportmittel und Lagerhäuser, monieren auch Amorce und Ademe. Das Einsammeln und die Verteilung von Lebensmitteln mit einem Wert von rund zwei Euro pro Kilogramm koste heute zwischen 50 und 80 Cent pro Kilogramm.
Jetzt sitzen Tafelbetreiber und Mitarbeiter des Umweltministeriums zusammen, um eine Lösung zu finden. Die zum Casino-Konzern gehörende Supermarkt-Kette Franprix hat ein Abkommen mit Phenix geschlossen. Das auf den Transport und die Verteilung von Lebensmitteln spezialisierte Unternehmen aus dem Bereich der Solidarwirtschaft soll zunächst in den Großräumen Paris und Lyon unverkaufte Lebensmittel aus den Supermärkten in der Innenstadt abholen und zu den Tafeln bringen. Womöglich ist das ein Weg, den künftig auch andere Supermarkt-Betreiber gehen werden.
In Deutschland setzen Gesetzgeber und Handel wie bis vor kurzem auch Frankreich auf freiwillige Spenden. Einer 2012 im Auftrag des Ernährungsministeriums erstellten Studie zu Folge treten Verbraucher, Handel, Industrie und Gastronomie jedes Jahr elf Millionen Tonnen Nahrungsmittel in die Tonne. Davon stammen allerdings nur 550.000 Tonnen aus dem Handel. Die größten Verschwender sind die privaten Verbraucher mit 6,7 Millionen Tonnen. In Frankreich mit seinen aktuell gut 64 Millionen Einwohnern landen einer EU-Studie zu Folge mehr als neun Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Müll - mehr als 140 Kilogramm pro Einwohner. 13,6 Prozent der Lebensmittelverschwendung gehen auf das Konto der Supermärkte. So steht es in dem Bericht einer Untersuchungskommission vom Februar 2015, der Grundlage für das neue Gesetz war.
Wenngleich viele Ketten in den vergangenen Jahren bereits steuerbegünstigte Spendenabkommen mit karitativen Vereinigungen schlossen, kapriziert sich das Gesetz auf den Handel. Für Entsetzen sorgte nämlich insbesondere, dass nicht wenige Franchise-Betreiber von Supermärkten Chlor über ihre aussortierten Produkte kippte, um sie unbrauchbar zu machen. Das ist nun verboten. Wer nicht spendet, muss nicht verkaufte Lebensmittel für Tiernahrung zur Verfügung stellen oder kompostieren.
Die meisten Lebensmittel aber verderben auch in Frankreich zu Hause: 6,3 Millionen Tonnen laut der EU-Studie. Das ist Nahrung im Wert von zwölf bis 20 Milliarden Euro. Für weitere 1,1 Millionen Tonnen sind die Restaurants verantwortlich. Bis 2025 soll das Volumen der Lebensmittelverschwendung in Frankreich halbiert werden.
Deshalb hat das Umweltministerium in den Schulen eine Sensibilisierungskampagne gestartet. Die Kinder sollen lernen, die Haltbarkeitshinweise auf den Produkten zu verstehen, dass man Salat auch noch essen kann, wenn die äußeren Blätter bereits nicht mehr so appetitlich aussehen - und dass es nicht beschämend ist, im Restaurant für die Essensreste auf dem eigenen Teller nach einem "Rest-O-Pack" zu fragen.
Diese Kampagne ist auch ganz im Sinne von Annie-France Looses. Sie selbst bietet in Toulouse Kochkurse an, wo kaum ein Schnipsel der Zutaten übrig bleibt. Im Gegensatz zu früher, sagt sie, hätten viele ihrer Kunden heute sehr wohl eine Arbeit und ein Einkommen, kämen damit aber nicht über die Runden. "Das sind Familien, aber auch immer mehr Studenten. Wir versuchen, ihnen zu helfen - in der Hoffnung, das sie uns bald nicht mehr brauchen."