Lebensmittelspenden Regierung bringt Frankreichs Tafeln in die Bredouille

Supermärkte sind neuerdings per Gesetz verpflichtet, unverkaufte Ware zu spenden. Doch den Weg zu den Bedürftigen behindern zahlreiche logistische Hürden.

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Supermärkte in Frankreich: Gesetz verpflichtet zur Spende unverkaufter Waren an Tafeln. Quelle: Getty Images

Annie-France Looses sollte sich freuen. Jeder erwartet das jetzt von ihr. Schließlich hat Frankreich gerade als erstes Land weltweit ein Gesetz verabschiedet, das es Supermärkten verbietet, Nahrungsmittel wegzuwerfen. Zehn Millionen Menschen, die heute Schwierigkeiten haben, sich Kraft eigener finanzieller Mittel gesund zu ernähren, sollen im ganzen Land davon profitieren. So stand es in den Zeitungen. So berichteten es die Radio- und Fernsehreportagen.

Eine tolle Nachricht also für Madame Looses, die in der südwest-französischen Stadt Toulouse die Tafel für Bedürftige leitet. Das fanden jedenfalls auch Verbraucherzentralen und Grünen-Politiker in Deutschland. Sie forderten, dem Beispiel der Nachbarn unverzüglich zu folgen.

Lebensmittel oft länger haltbar als angegeben
Mindesthaltbarkeitsdatum als AnhaltspunktDas Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist seit 1981 eine Pflichtangabe auf allen Fertigverpackungen von Nahrungsmitteln und gibt den Zeitpunkt an, bis zu dem das Produkt auf jeden Fall ohne wesentliche Geschmacks- und Qualitätseinbußen sowie gesundheitliches Risiko zu konsumieren ist. Auch danach kann ein Lebensmittel oft noch problemlos verzehrt werden. Quelle: dpa
Mindesthaltbarkeitsdatum vs. VerbrauchsdatumIm Gegensatz zum Mindesthaltbarkeitsdatum ist das Verbrauchsdatum eine Angabe für verderbliche Lebensmittel wie rohes Fleisch und Fisch. Diese sollten nach dem aufgedruckten Verbrauchsdatum nicht mehr verzehrt werden, da sie durch entstehende Keime eine Gefahr für die Gesundheit darstellen können. Quelle: dpa
Wie lange sind Lebensmittel nach dem MHD noch genießbar?Je nach Produkt sind viele Lebensmittel über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus noch essbar. H-Milch oder Schnittkäse können in ungeöffnetem Zustand ein bis zwei Wochen nach MHD noch verwendet werden, Jogurt hält sich bei korrekter Lagerung bis zu zwei Monate länger als vom MHD angegeben. Im Zweifel helfen die menschlichen Sinne bei der Einschätzung: Sieht ein Nahrungsmittel anders aus als sonst oder verströmt es einen ungewöhnlichen Geruch, sollte man es sicherheitshalber entsorgen. Quelle: AP
Wie kann man Haltbarkeit verlängernDie richtige Lagerung entscheidet über die Haltbarkeit von Lebensmitteln. Bei verderblichen Lebensmitteln sollte der Verbraucher auf eine geschlossene Kühlkette achten. Fleisch und Fisch sollten im Kühlschrank im untersten Fach abgelegt werden, dort ist es am kältesten. Einige Gemüse- und Obstsorten wie Tomaten oder Bananen haben im Kühlschrank nichts verloren – sie verlieren dort ihr Aroma. Quelle: dpa
Was tun mit überflüssigen LebensmittelnTeilen statt wegwerfen: Dieser Trend setzt sich derzeit in vielen Städten durch. Über die Initiative Foodsharing wurden in Städten wie Berlin, Hamburg und Köln Kühlschränke aufgestellt, in denen man zu viel gekaufte oder nicht mehr benötigte Lebensmittel legen kann. Mitmachen kann jeder – sowohl als Geber als auch als Nehmer. Quelle: dpa
Was machen Supermärkte mit Produkten kurz vor Ende des MHD?Viele Supermärkte bieten spezielle Kisten in der Kühltheke an, in denen Produkte kurz vor dem Ablaufdatum vergünstigt angeboten werden. Große Handelsketten wie Lidl arbeiten mit den Tafeln zusammen, einer Organisation, die Lebensmittel an Bedürftige herausgibt. Dort landen vor allem Produkte wie Gemüse oder Waren kurz vor Ende des Mindesthaltbarkeitsdatums, die für den  herkömmlichen Verkauf nicht mehr geeignet oder schlichtweg überzählig sind. Quelle: dpa

Doch Annie-France Looses kann sich nicht so recht freuen. "Natürlich bin ich auch dafür, dass weniger Lebensmittel verschwendet werden," sagt die 65-Jährige. "Aber wir Betreiber der Tafeln hätten uns gewünscht, dass das Gesetz uns die finanziellen Mittel an die Hand gibt, diese Nahrungsmittel auch einzusammeln." Das sei aber das große und entscheidende Manko, klagt sie. "Wir haben weder die personellen noch die finanziellen Mittel, um alle Supermärkte abzufahren. Wir bräuchten mehr Lastwagen, mehr Kühlhäuser für die Lagerung und dann natürlich auch mehr Freiwillige, die diese Arbeit übernehmen wollen."

Verbraucher sollen auch hässliches Obst essen
Wie lassen sich Verbraucher für knubbeliges Obst oder fleckiges Gemüse begeistern? Dieser Frage sind drei Studenten für visuelle Kommunikation der Weimarer Bauhaus-Universität nachgegangen. Für ihre Diplomarbeit haben Giacomo Blume (25), Moritz Glück (26) und Daniel Plath (26) das Konzept der Lebensmittelkette „Ugly Fruits“ entwickelt , die leidglich Ost und Gemüse verkaufen soll, das wegen seinem Aussehen normalerweise nicht im Geschäft gelandet wäre. Zu den Plakatvorschlägen ihrer Diplomarbeit zählt etwa dieses „Erdbärchen“-Motiv. Quelle: Lauthals, Ugly Fruits
Dass die Streifen auf der Kartoffel an das Adidas-Logo erinnern, greifen die Studenten mit dem Wort „Uglidas“ auf. Im Dokumentarfilm „Taste the Waste“ von 2011 berichtet ein Kartoffelbauer, dass es sich bei 40 Prozent seiner Ernte wegen ihrem Aussehen um Ausschussware handelt. „Entweder sie unterpflügen die angeblich mangelhafte Ware direkt weder, verkaufen sie für weniger Geld an Safthersteller oder verarbeiten sie als Tierfutter“, sagt Giacomo Blume. Gemeinsam mit seinen beiden Kommilitonen hat er den Film im Kino gesehen und sich für die Diplomarbeit inspirieren lassen. Quelle: Lauthals, Ugly Fruits
Diese gekrümmte Gurke mit der Form eines Bumerangs hätte es so nie ins Gemüseregal geschafft. „Einheitsgemüse lässt sich einfacher stapeln, in Kisten verpacken und verschicken“, sagt Giacomo Blume. Umsetzen wollen sie die Geschäftsidee jedoch selber nicht. „Wir sind weder Gemüsehändler noch Wirtschaftswissenschaftler“, sagt Blume. Die drei Kommunikationsdesign-Studenten haben sich nach ihrer Diplomarbeit in Weimar nun eine Werbeagentur namens „Lauthals“ gegründet. „Wenn wir einen Partner finden, der die Geschäftsidee umsetzen möchte, würden wir gerne den kommunikativen Part übernehmen“, sagt Blume. Quelle: Lauthals, Ugly Fruits
Ende Juli diesen Jahres hat die Schweizer Lebensmittelkette Coop Aprikosen mit Hagelschäden ins Sortiment aufgenommen. Ende August will das Unternehmen seine Aktion auf unförmige, besonders kleine, oder übergroße Gemüsesorten ausweiten. Mit einer übergroßen Kartoffel werben auch die ehemaligen Weimarer Studenten. Quelle: Lauthals, Ugly Fruits
Schon die britische Supermarktkette Waitrose hat 2006 unter anderem äußerlich mangelhafte Erdbeeren, Himbeeren und Pflaumen zu niedrigen Preisen angeboten. „Das zeigt uns, dass die Geschäftsidee funktionieren kann“, sagt Blume. Quelle: Lauthals, Ugly Fruits
Zwei Berlinerinnen haben schon ein Unternehmen gegründet, das sich auf optisch mangelhafte Lebensmittel spezialisiert hat. Lea Brumsack und Tanja Krakowski verkaufen zwar kein Gemüse zweiter Wahl - aber sie verarbeiten es in ihrem 2012 gegründeten Catering-Service "Culinary Misfits" zu Speisen. Quelle: Lauthals, Ugly Fruits
Sollte aus der Diplomarbeit tatsächlich ein Unternehmen entstehen, sehen es die ehemaligen Weimarer Studenten als wichtig an, dass in den Geschäften lediglich Obst und Gemüse mit optischen Mängeln verkauft werden – und nicht „schöne“ Lebensmittel daneben liegen. „Dadurch würde eine Konkurrenz entstehen und die einwandfreien Produkte würden die anderen minderwertig aussehen lassen“, sagt Giacomo Blume. So laufe das „hässliche“ Obst nur wieder Gefahr, liegengelassen zu werden. Quelle: Lauthals, Ugly Fruits

Die Tafel in Toulouse unterstützt derzeit rund 16.000 Menschen mit 6,6 Millionen Essensausgaben im Jahr. 2000 Tonnen Nahrungsmittel hat die Banque Alimentaire vergangenes Jahr bei den Spendern abgeholt und an Bedürftige verteilt. Mit den derzeit vorhandenen Mitteln könnten womöglich 1000 Tonnen zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Schwierigkeiten bereitet weniger der Abtransport umfangreicher Ladungen, wie sie die großen Verkaufsflächen am Stadtrand zur Verfügung stellen können. Das Problem, sagt Looses, sei vielmehr, die zahlreichen kleineren Supermärkte in den Innenstädten abzuklappern.

So wie Annie-France Looses geht es vielen Tafelbetreibern in Frankreich. Amorce, ein gemeinnütziger Verein aus gut 800 Gemeinden, Organisationen und Unternehmen, der sich der Verwertung von Müll und einem besseren Energiemanagement verschrieben hat, hat zusammen mit der staatlichen Umwelt- und Energieagentur Ademe eine Untersuchung für die Großräume Grenoble in den Alpen und Tours in Zentralfrankreich durchgeführt. Demnach könnten in Grenoble 14.000 Tonnen Lebensmittel jährlich gespendet und verteilt werden. In Tours wären es 15.000 Tonnen.

Nur acht Prozent der potenziell verfügbaren Menge wird eingesammelt

Aktuell werden aber lediglich acht Prozent dieser potenziell verfügbaren Menge eingesammelt. Es fehlten Fahrer, geeignete Transportmittel und Lagerhäuser, monieren auch Amorce und Ademe. Das Einsammeln und die Verteilung von Lebensmitteln mit einem Wert von rund zwei Euro pro Kilogramm koste heute zwischen 50 und 80 Cent pro Kilogramm.

Jetzt sitzen Tafelbetreiber und Mitarbeiter des Umweltministeriums zusammen, um eine Lösung zu finden. Die zum Casino-Konzern gehörende Supermarkt-Kette Franprix hat ein Abkommen mit Phenix geschlossen. Das auf den Transport und die Verteilung von Lebensmitteln spezialisierte Unternehmen aus dem Bereich der Solidarwirtschaft soll zunächst in den Großräumen Paris und Lyon unverkaufte Lebensmittel aus den Supermärkten in der Innenstadt abholen und zu den Tafeln bringen. Womöglich ist das ein Weg, den künftig auch andere Supermarkt-Betreiber gehen werden.

In Deutschland setzen Gesetzgeber und Handel wie bis vor kurzem auch Frankreich auf freiwillige Spenden. Einer 2012 im Auftrag des Ernährungsministeriums erstellten Studie zu Folge treten Verbraucher, Handel, Industrie und Gastronomie jedes Jahr elf Millionen Tonnen Nahrungsmittel in die Tonne. Davon stammen allerdings nur 550.000 Tonnen aus dem Handel. Die größten Verschwender sind die privaten Verbraucher mit 6,7 Millionen Tonnen. In Frankreich mit seinen aktuell gut 64 Millionen Einwohnern landen einer EU-Studie zu Folge mehr als neun Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Müll - mehr als 140 Kilogramm pro Einwohner. 13,6 Prozent der Lebensmittelverschwendung gehen auf das Konto der Supermärkte. So steht es in dem Bericht einer Untersuchungskommission vom Februar 2015, der Grundlage für das neue Gesetz war.

Wenngleich viele Ketten in den vergangenen Jahren bereits steuerbegünstigte Spendenabkommen mit karitativen Vereinigungen schlossen, kapriziert sich das Gesetz auf den Handel. Für Entsetzen sorgte nämlich insbesondere, dass nicht wenige Franchise-Betreiber von Supermärkten Chlor über ihre aussortierten Produkte kippte, um sie unbrauchbar zu machen. Das ist nun verboten. Wer nicht spendet, muss nicht verkaufte Lebensmittel für Tiernahrung zur Verfügung stellen oder kompostieren.

Die meisten Lebensmittel aber verderben auch in Frankreich zu Hause: 6,3 Millionen Tonnen laut der EU-Studie. Das ist Nahrung im Wert von zwölf bis 20 Milliarden Euro. Für weitere 1,1 Millionen Tonnen sind die Restaurants verantwortlich. Bis 2025 soll das Volumen der Lebensmittelverschwendung in Frankreich halbiert werden.

Deshalb hat das Umweltministerium in den Schulen eine Sensibilisierungskampagne gestartet. Die Kinder sollen lernen, die Haltbarkeitshinweise auf den Produkten zu verstehen, dass man Salat auch noch essen kann, wenn die äußeren Blätter bereits nicht mehr so appetitlich aussehen - und dass es nicht beschämend ist, im Restaurant für die Essensreste auf dem eigenen Teller nach einem "Rest-O-Pack" zu fragen.

Diese Kampagne ist auch ganz im Sinne von Annie-France Looses. Sie selbst bietet in Toulouse Kochkurse an, wo kaum ein Schnipsel der Zutaten übrig bleibt. Im Gegensatz zu früher, sagt sie, hätten viele ihrer Kunden heute sehr wohl eine Arbeit und ein Einkommen, kämen damit aber nicht über die Runden. "Das sind Familien, aber auch immer mehr Studenten. Wir versuchen, ihnen zu helfen - in der Hoffnung, das sie uns bald nicht mehr brauchen."

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