Es passiert mir jede Woche irgendwo: Ich warte in der Schlange an der Kasse. Weil ich dachte, dass ich nur Kleinigkeiten brauche, habe ich weder Einkaufswagen noch -korb genommen. Nun stehe ich bis unter das Kinn bepackt da und spüre, wie mir unter Cornflakesschachtel, Bio-Eiern und Vanille-Eis-Bottich das Netz mit den Mandarinen das Blut in den Fingerkuppen einschnürt.
Gerade bin ich bis zur Mitte der Schlange vorgerückt, da saust eine Kassiererin an den Wartenden vorbei und flötet "Sie können auch zu mir rüberkommen".
Das ist der Moment! Die Chance, das Einkaufserlebnis die Sahnehaube aufzusetzen! Durch einen perfekten Kassenschlangen-Wechsel.
Wie würde der ablaufen, wenn wir es klar unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit abhandeln?
Jeder Kunde spielt zunächst in Sekundenbruchteilen durch: Lohnt sich für mich der Wechsel zeitlich? Dann setzt sich in Bewegung, wer für sich entscheidet: ja. Und zwar in der Reihenfolge der schon bestehenden Schlange. In genau! Dieser! Reihenfolge! Weil das fair ist. Aber das ist etwas, das man den Deutschen einfach nicht begreiflich machen kann.
Eine neue Kasse bedeutet eine neue Welt
In Deutschland denkt man: Eine neue Kasse bedeutet eine neue Welt. Ein rechtsfreier Raum. Und wer hinten in der Schlange steht, wittert nun die Chance, irgendwo anders noch einmal ganz von vorne anfangen und sein Glück finden zu können. Wie damals die europäischen Siedler, die nach Amerika auswanderten, weil es daheim nicht klappen wollte.
Dann stehen die Verlierer von hinten plötzlich ganz vorne, pfeffern lässig ihr Toastbrot aufs Fließband und triumphieren in sich hinein: "Die Letzten werden die Ersten sein! Die Bibel stimmt. Das ist der Beweis: Es gibt Gott!" Oder so ähnlich.
Und die in der Mitte der alten Schlange, so wie ich immer, die gucken blöd aus der Wäsche, spüren die Gewalt der Mandarinen und denken sich: "Wäre der Ständer mit den verdammten Bifis nicht im Weg gewesen, dann stünde ich jetzt vorne, meine Fingerkuppen wären nicht mehr blau und dann wäre ich es, der triumphierend das neue Testament zitiert."
In Deutschland empfinden viele offenbar alles derartig von staatlicher Seite durchgeregelt, dass sie dort, wo es keine Regeln gibt, meinen, die Sau rauslassen zu können. Kritik daran lässt sich bei uns ja leicht kontern: "Wo steht denn, dass ich das nicht darf?"
Tragischerweise muss man wiederum genau wegen jener Leute, die sich über die Regelungswut empören, jeden Mist regeln. Weil eine Regelungslücke rücksichtslos ausgenutzt wird. Denn das ist ja Freiheit.
Also rief jüngst eine Kassiererin bei dm beim Öffnen der Kasse: "Kommen Sie bitte auch zu mir rüber - aber in der entsprechenden Reihenfolge." Und prompt waren alle ganz artig. Man muss es eben dazu sagen. Wenn es eine Autorität in weißer dm-Uniform so vorgibt, wird es so gemacht.
In Uruguay geht es auch ohne Kommandos
Die Uruguayer machen uns vor, wie es ohne Kommandos geht. Wer sich dort vordrängelt, macht sich komplett lächerlich. Ich war vergangene Woche in Montevideo. Dort stellen sich die Menschen sogar an der Bushaltestelle in die Warteschlange, obwohl noch gar kein Bus da ist.
Und auch in Argentinien ist es Volkssport, sich gegenseitig den Vortritt zu lassen.
"Ach, bitte, gehen Sie vor."
"Nein, nein, Sie waren vor mir da."
"Ach, danke."
Derjenige, der als erstes in den Bus steigt, blickt sich kurz höflich um und zeigt damit: Ich will mich nicht vordrängeln. All das kostet vielleicht zwei Sekunden. Zwei Sekunden, die reichen, um zu zeigen: Es geht mir auch um dich.