Pillen-Klagen Der Feel-Bad-Faktor: Patienten verklagen Pharmariesen

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Grafik: Die größten Vergleichszahlungen für Medikamente in den USA

In den USA, dem größten Arzneimittelmarkt der Welt, sind bei Medikamenten-Skandalen bereits hohe Summen fällig. Allein Merck & Co. zahlte in den USA wegen Vioxx fast fünf Milliarden Dollar. In Deutschland hat keiner der über 100 Kläger bislang auch nur einen Cent erhalten. Das Unternehmen erklärt, sich vor dem "Hintergrund der Besonderheiten des Rechts- und Gerichtssystems" in den USA auf einen Vergleich eingelassen zu haben – langwierige und kostspielige Prozesse sollten so vermieden werden. Die Zahlung, so der Konzern, bedeute kein Schuldeingeständnis. Der britische Konzern GlaxoSmithKline ließ sich wegen seines umstrittenen Diabetes-Präparates Avandia – das Mittel soll zu Herzproblemen führen – auf eine Vergleichszahlung in Höhe von 460 Millionen Dollar ein. Auch GlaxoSmithKline bestreitet allerdings die Vorwürfe.

Inzwischen wehren sich aber auch die mutmaßlich Geschädigten in Deutschland stärker als zuvor. "Die Patienten sind mutiger geworden und machen mehr Druck auf die Unternehmen als früher", sagt der Berliner Rechtsanwalt Jörg Heynemann, der zahlreiche Mandanten gegen Medikamentenkonzerne wie Pfizer, Merck & Co., Novo Nordisk oder Abbott vertritt.

"Die Kläger wurden meist mit Standardfloskeln abgespeist"

Auslöser für die sich aufbauende Klagewelle gegen die Pharmaunternehmen ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 1. Juli 2008. Die Richter minderten damit die Darlegungslast für geschädigte Patienten, die Schadensersatz einklagen wollen. Seither urteilen Gerichte zunehmend im Sinne der Kläger. Bislang hatten es die Pharmakonzerne nach der Erfahrung von Medizinrechtlern in Deutschland relativ leicht, Schadensersatzforderungen von Patienten abzuschmettern. "Die Kläger wurden meist mit Standardfloskeln abgespeist", sagt Martin Jensch, der Anwalt der Bayer-Klägerin Rohrer. Die Einzelfälle seien zwar bedauerlich, hätten die Unternehmen meist erklärt, doch man könne keinen Kausalzusammenhang mit dem Medikament erkennen, werde das aber prüfen. „Danach kommt dann lange nichts mehr“, sagt Jensch. Mit der Beantwortung anwaltlicher Schreiben hätten sich die Konzerne meist viel Zeit gelassen, so der Anwalt. Vor allem aber hätten sie keine Unterlagen herausgerückt, in denen etwa unerwünschte Nebenwirkungen der Medikamente aufgelistet sind.

"Damit werden sie künftig kaum noch durchkommen", prognostiziert Medizinrechtler Heynemann. Denn Gerichte in Berlin, Brandenburg und Siegen verfügten in den vergangenen Monaten, dass MSD Sharp & Dohme firmeninterne Unterlagen offenlegen muss – ein Novum in der hiesigen Rechtsprechung. Die Kläger wollen anhand der Unterlagen beweisen, dass Merck frühzeitig von einem erhöhten Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko seines Schmerzmittels Vioxx wusste.

Hohe Hürden für Schadensersatzklagen

Im Oktober will das Oberlandesgericht Köln entscheiden, ob auch Pfizer – nach der Klage von Mathematiker Schröder – Unterlagen zum umstrittenen Antidepressivum Zoloft präsentieren muss. Finden die Kläger darin belastendes Material, wächst die Chance, erfolgreich Schadensersatz einklagen zu können.

In den USA greifen in solchen Fällen oft sogenannte Sammelklagen, die im deutschen Rechtssystem in dieser Form nicht vorgesehen sind. Hunderte von Klägern bündeln ihre Interessen und lassen sich von Anwälten vertreten, die im Erfolgsfalle hohe Honorarsummen kassieren – damit kommt dann Schwung in die Gerichtsprozesse.

Wegen der besseren Erfolgsaussichten wollte sich auch die möglicherweise Vioxx-Geschädigte Herbermann einer solchen Sammelklage in den USA anschließen. Doch ein US-Gericht blockte den Versuch ab und beschränkte die Klage auf US-Bürger. "Dabei habe ich doch genauso gelitten wie Tausende Amerikaner", sagt die 61-Jährige, "ich fühlte mich als Mensch zweiter Klasse."

In Deutschland müssen die Pharmaunternehmen noch keine Sammelklagen fürchten. Stattdessen drohen ihnen viele Einzelklagen, bei denen es allerdings durchaus jeweils um fünf- bis sechsstellige Beträge geht. Zwischen 40 000 und 150.000 Euro Schadensersatz etwa fordert Anwalt Heynemann in Deutschland pro Vioxx-Patient – je nach Schweregrad der Erkrankung. Würden alle Kläger, die derzeit gegen Merck & Co. vor Gericht ziehen, ihre Ansprüche durchsetzen, müsste der Konzern insgesamt bis zu 15 Millionen Euro zahlen, schätzt Heynemann.

"Die Hürden sind immer noch hoch", sagt der Anwalt. "Aber ich bin zuversichtlich, dass wir nach dem langen juristischen Prozedere Schadensersatzansprüche durchsetzen werden."

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