Bekannte Börsenschwergewichte, auch Blue Chips genannt, sind sicher und auch für risikoscheue Anleger geeignet. Die weniger bekannten Nebenwerte hingegen sollten nur erfahrenere Investoren kaufen. So steht es in vielen schlauen Büchern mit Titeln wie „Börse für Einsteiger“. Wer sich auf den Rat verließ und als Einsteiger vor einem Jahr zu gleichen Teilen Aktien von Volkswagen, RWE und E.On gekauft hat, immerhin allesamt im Dax vertreten, hat bislang gut die Hälfte seines Geldes verbrannt. Größe und Bekanntheit bieten also keine Anti-Verlust-Garantie. Während der Dax auf Jahressicht Anlegern inklusive Dividenden nur 0,3 Prozent Ertrag gebracht hat, stehen die Indizes der mittelgroßen und kleineren Börsenwerte, MDax und SDax, noch knapp 20 Prozent im Plus.
Also einfach die Aktien ein paar kleiner, unbekannter Unternehmen kaufen? So simpel ist es nicht. Mittlerweile sind die im MDax und SDax vertretenen Werte relativ teuer, zumindest wenn man die Kurse in Relation zu den für dieses Jahr erwarteten Gewinnen, den Dividenden oder auch dem Wert des bilanzierten Vermögens setzt. Anleger trauen den Unternehmen der zweiten Reihe also viel Wachstum zu. Enttäuschen sie, drohen Kursrückschläge. Die WirtschaftsWoche hat daher gezielt nach zurückgebliebenen Nebenwerten gesucht, deren Kurse sich über einen längeren Zeitraum schlechter als die Börse insgesamt entwickelten, die nun aber Chancen für die Zukunft bieten. Im Anschluss an die rein am Kurs orientierte Vorauswahl der Aktien haben wir die Unternehmen durchleuchtet.
Die Vorauswahl orientiert sich an der Kursentwicklung der vergangenen fünf Jahre – also von September 2010 bis September 2015 –, in denen die Börse sich grundsätzlich gut entwickelt hat. Betrachtet man die Kursentwicklung seit September 2011, 2012, 2013 oder 2014, schneidet etwa Stahlproduzent Salzgitter stets schlechter als der Dax ab. Das allein wäre kein Kaufargument. Doch die Aktie hat ihren Rückstand Jahr für Jahr verringert. Solarproduzent SMA Solar hingegen hat den Dax im vergangenen Jahr bereits geschlagen, hat sich vorher aber, jeweils von September bis September, schlechter als der Markt entwickelt. Auch die übrigen vorgestellten Werte haben den Markt über zwölf Monate schon getoppt, waren aber vor vier, vor drei und vor zwei Jahren jeweils schlechter gelaufen. Haben diese Unternehmen das Zeug, den Markt nun dauerhaft abzuhängen? Unsere Detailanalyse liefert Antworten.
Um 18 Prozent lagen die weltweiten Stahlpreise in der ersten Hälfte 2015 unter denen von 2014. Angesichts der Schwäche in China und der Krisen in Brasilien und Russland ist eine schnelle Erholung unwahrscheinlich.
Kein Wunder also, dass Stahlaktien billig sind. Ganz besonders billig ist Salzgitter aus Niedersachsen. Nur 1,3 Milliarden Euro bringen ihre Aktien zusammengenommen noch auf die Waage. Dabei ist Salzgitter mit einer Jahresproduktion von mehr als sieben Millionen Tonnen Rohstahl einer der größten Stahlkocher Europas. Bei neun Milliarden Euro Geschäftsvolumen kostet jeder Euro Jahresumsatz an der Börse nur noch 20 Cent. Das ist noch ein Viertel weniger als beim Konkurrenten ThyssenKrupp.
Dabei ist Salzgitter stabiler finanziert. Die Eigenkapitalquote ist mit 35 Prozent ansehnlich, netto sind 178 Millionen Euro in der Kasse. Gut entwickelt sich die 25-prozentige Beteiligung an der Kupferhütte Aurubis, derzeit immerhin ein Wert von 650 Millionen Euro. Und dass ein Viertel der Salzgitter-Aktien beim Land Niedersachsen liegen, ist für den Erhalt des Unternehmens kein Nachteil.
41 Millionen Euro netto blieben Salzgitter im ersten Halbjahr, nach 16 Millionen Euro Verlust im gleichen Vorjahreszeitraum. Die Sparmaßnahmen wirken. Günstige Preise für Erz und Kokskohle senken die Kosten der Stahlproduktion. 2016 könnte Salzgitter erstmals wieder netto über 100 Millionen verdienen. Salzgitter-Aktien sind eine Turnaround-Spekulation, für die Anleger etwas Geduld brauchen. Doch beim aktuellen Kurs sind die Startbedingungen nicht schlecht.
SMA Solar, Vossloh, Delticom
SMA Solar baut Wechselrichter für Solaranlagen. Die braucht man, weil Solarpaneele aus Sonnenenergie Gleichstrom gewinnen, im Stromnetz aber meist Wechselstrom fließt. Daneben bietet der Konzern aus Kassel zum Beispiel Energiemanagement- und Speicherlösungen an. 2014 setzte SMA 805 Millionen Euro um und machte damit 180 Millionen Verlust. Mit einer Eigenkapitalquote von 47 Prozent ist der Konzern aber solide aufgestellt. Jetzt macht sich bei Anlegern wieder Optimismus breit. Denn im ersten Halbjahr 2015 konnte SMA den Verlust von 42 Millionen auf 21 Millionen Euro halbieren. Aus den USA trudelte im Frühjahr ein Großauftrag ein, SMA soll für sieben Solarparks Wechselrichter liefern. 87 Prozent seiner Umsätze macht der Konzern mittlerweile im Ausland, insbesondere in den USA, und mit Technik für Großanlagen. In China versuchen sich die Kasseler mit ihrer Billigmarke Zeversolar. Auf dem Heimatmarkt erwartet SMA-Vorstand Pierre-Pascal Urbon dagegen weiter sinkende Verkäufe.
Wie hart der Druck auf dem Markt ist, zeigt das Segment für Privathaushalte, das gut ein Viertel zum Umsatz beiträgt. Nach Verbesserungen im Produktionsprozess konnte SMA die Marge vor Steuern und Zinsen (Ebit-Marge) von desaströsen minus 21 Prozent im ersten Halbjahr 2014 auf minus neun Prozent korrigieren. Urbon rechnet 2015 mit 850 bis 900 Millionen Euro Umsatz. 80 Prozent davon habe man zum Halbjahr bereits gesichert. Das hieße: Erstmals seit 2010 könnte SMA die Umsätze steigern. Selbst einen Nettogewinn schließt SMA für 2015 nicht aus. Der Kurs hat sich seit Januar mehr als verdoppelt. Mit seinem weltweiten Produktionsnetz und dem Auslandsfokus sollte SMA künftig Chancen bieten.
Immer mehr Tochtergesellschaften und Schulden, aber immer weniger Gewinn und Eigenkapital: Diese Mischung stürzte das Traditionsunternehmen in eine tiefe Krise. 2014 tauschte Vossloh den Vorstand aus und verordnete sich eine Schrumpfkur. Über 200 Millionen Euro Verlust standen dadurch am Ende des Horrorjahrs, die Aktie hatte allein 2014 ein Viertel an Wert verloren. Doch seitdem steigt die Vossloh-Aktie wieder kräftig. Vossloh will ausmisten und sich vom ertragsschwachen Lokomotivenbau verabschieden. Die Transportsparte – mit rund 40 Prozent Umsatzanteil der größte Geschäftsbereich – soll bis 2017 verkauft werden.
In Zukunft will das Unternehmen nur noch Schienenbefestigungen und Weichen bauen sowie Schienennetze warten. Auch die Finanzen strukturieren die Sauerländer neu und sicherten sich mit dem Verkauf eigener Aktien und einem neuen Kredit über 500 Millionen Euro etwas Spielraum. Im ersten Halbjahr 2015 schaffte Vossloh mit 12 Cent je Aktie immerhin wieder einen Minigewinn. Eine Dividende wird es wohl kaum geben, Anleger müssen auf Kurssteigerungen hoffen. Das könnte klappen, wenn Großaktionär Heinz Hermann Thiele aufstocken sollte. Doch die Aktie notiert schon wieder zum mehr als 40-fachen Gewinn. Anleger sollten jetzt nicht mehr einsteigen.
Onlinereifenhändler Delticom litt im vergangenen Jahr unter dem milden Wetter: Zu wenig Autofahrer wechselten auf Winterreifen. Dem E-Commerce-Unternehmen machen der Preiswettbewerb im Reifenhandel und damit sinkende Margen zu schaffen: 2012 lag die Vorsteuermarge noch bei 25,7 Prozent vom Umsatz, im zweiten Quartal 2015 ist sie auf 24,0 Prozent gesunken.
Delticom muss weiter wachsen, um sich Wettbewerber vom Hals zu halten. Angesichts niedriger Markteintrittsbarrieren dürfte das schwierig werden. Selbst Amazon verkauft Reifen. Gerade jetzt im Herbst ist Delticom wegen des saisonalen Reifenwechsels eine riskante Wette auf einen harten Winter. Bei mildem Wetter könnte der Onlinereifenhändler schwächeln.
Simona, H&R, Tomorrow Focus
Der Hersteller von Rohren, Platten und anderen Werkstoffen blickt auf knapp 160 Jahre Geschichte zurück. Heute produziert der Mittelständler aus Rheinland-Pfalz nicht nur Behälter für die Chemieindustrie, sondern auch antibakterielle Wandverkleidungen für Krankenhäuser und spezielle Platten für Benzintanks, wie sie im Audi A8 verbaut werden. „80 Prozent der Produktinnovationen sind vom Kunden getrieben“, sagt Wolfgang Moyses, Simona-Vorstandsvorsitzender. Bis zu 355 Millionen Euro Umsatz und 26 Millionen Euro Gewinn vor Zinsen und Steuern prognostiziert das Unternehmen dieses Jahr. Die Dividende soll steigen: „9,50 bis 10 Euro sind möglich“, sagt Moyses – rund 2,5 Prozent Rendite.
Kernmarkt ist Europa (73 Prozent Umsatzanteil im ersten Halbjahr). Größere Zukäufe gab es in den USA. „Weitere sollen folgen, in den USA vielleicht 2016“, sagt Moyses. Trotz der jüngsten Turbulenzen sieht er in China Potenzial, da dort immer stärker auf Qualität geachtet werde. Eine breitere geografische Aufstellung würde Simona noch stabiler machen; die Aktie dürfte nach mehreren Jahren Stagnation ihren zu Jahresanfang gestarteten Anstieg fortsetzen. Der Börsenhandel ist wenig rege; nur mit Limit ordern.
Einst war die H&R-Aktie ein kleiner Börsenstar, legte im Kurs von 2004 bis Ende 2006 von 10 auf 53 Euro zu. Heute ist der Kurs sogar unter dem alten Ausgangsniveau angekommen. Schuld ist vor allem der zusammengebrochene Ölpreis. Die Niedersachsen stellen chemisch-pharmazeutische Spezialitäten auf Rohölbasis sowie Präzisions-Kunststoffteile her. In den vergangenen zwei Jahren waren die Umsätze rückläufig, 2014 sackten die Erlöse um 13 Prozent auf 1,06 Milliarden Euro. Wie im Vorjahr war das Ergebnis rot. Dieses Jahr jedoch wird H&R wieder einen Gewinn schaffen, vor allem dank niedrigerer Kosten. Obwohl sich der Umsatz im ersten Halbjahr noch einmal um drei Prozent auf 525 Millionen Euro verringerte, sprang der Konzernnettogewinn von minus 2,7 auf plus 18,2 Millionen Euro. Sackt der Ölpreis nicht noch einmal dramatisch, was unwahrscheinlich ist, dann landet die H&R-Aktie bei einer Gewinnbewertung 2015 von geschätzt gut zehn. Das ist ebenso günstig wie andere wichtige Kennziffern: Die Eigenkapitalquote liegt bei 40,5 Prozent, die Nettoschulden werden zum Jahresende auf 128 Millionen Euro geschätzt, das wäre knapp das Doppelte des Ergebnisses vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Amortisation – ein guter Wert. Das relativ marktenge Papier (knapp 280 Millionen Euro Börsenkapitalisierung) ist unterm Strich für spekulative Anleger interessant, die Abtaucher aushalten können.
Der Name täuscht: Ihre Beteiligungen an den Focus-Medien hat Tomorrow Focus (TMF) mittlerweile abgestoßen. TMF ist jetzt ein Onlinereiseanbieter. Größte Beteiligung und stärkste Marke ist das Buchungsportal Holidaycheck.de. Investoren wünschen sich deshalb schon eine Umbenennung des Konzerns. Zusätzlich gehören die Wetterseiten von Meteovista zum Konzern sowie das im Benelux-Raum führende Hotelbewertungsportal Zoover.
Die Konkurrenz unter den Buchungsportalen ist groß. Neben Marktführer Tui buhlen auch ProSiebenSat.1 mit weg.de und ab-in-den-urlaub.de von Unister um Urlauber. Im ersten Halbjahr 2015 gab TMF deshalb 4,4 Millionen Euro mehr an Werbung aus. Schon 2014 nahm der Konzern 6,6 Millionen mehr in die Hand, um Kunden zu gewinnen. Anfang August kündigte der Vorstand an, man erwarte 2015 kein operatives Wachstum, sondern konstante Erträge. Ein Grund: Der starke Schweizer Franken belastet – die Zentrale von Holidaycheck liegt in der Schweiz. Währungsverluste könnten das Ergebnis um maximal 2,2 Millionen Euro drücken, prognostiziert TMF.
TMF ist an der Börse 190 Millionen Euro wert. Als der Konzern 2013 die fehlenden sechs Prozent der Anteile an Holidaycheck übernommen hatte, bewertete er das Reiseportal allein mit insgesamt 250 Millionen Euro. Anleger, die TMF deshalb für unterbewertet halten, sollten mit einem möglichen Einstieg aber erste Jahresergebnisse nach dem Verkauf der Focus-Medien abwarten.