Arbeitsmarkt Hassobjekt Hartz IV ist ein Erfolgsmodell

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Der Kampf der Gewerkschaften

Ein Mitarbeiter des Autobauers Mercedes Benz hält ein Plakat mit der Aufschrift

„Die Hartz-Reformen haben vor allem bewirkt, dass die Menschen immer länger arbeiten“, sagt Hilmar Schneider, Arbeitsmarktforscher vom Bonner Institut Zukunft der Arbeit (IZA). So liegt die Erwerbsquote der über 60-Jährigen heute bei 45 Prozent, in den Neunzigerjahren waren es gut 20. Bis zur Jahrtausendwende war es gang und gäbe, dass Betriebe auf konjunkturelle Schwächephasen mit der massenhaften Frühverrentung auf Staatskosten reagierten. Seit auch ehemals üppig entlohnten Mitarbeitern das Existenzminimum droht, funktioniert diese Taktik nicht mehr. Stattdessen stocken viele Unternehmen den Anteil flexibler Beschäftiger auf. Auch dazu hat die Hartz-Reform mit der Deregulierung der Zeitarbeit beigetragen. Statt teurer Sozialfälle spülen Krisen nun Ex-Beschäftigte auf den Markt, die sofort die nächste Anstellung suchen.

von Anke Henrich, Rüdiger Kiani-Kreß, Michael Kroker, Susanne Kutter, Martin Seiwert, Harald Schumacher

Michael Pottel hat in der Zeit seiner Arbeitslosigkeit 80 Bewerbungen geschrieben. Und damals beschlich ihn die Sorge, dass er als Mittvierziger vielleicht schon zu alt für den Arbeitsmarkt sein könnte. Am Anfang bewarb er sich nur in seinem Beruf als Controller, „am Ende hätte ich auch Burger gebraten“, erzählt der 46-Jährige. Nur viermal wurde er zum Vorstellungsgespräch eingeladen, dreimal stand ein Zeitarbeitsunternehmen dahinter.

Zunächst hatte er Vorbehalte: „Zeitarbeit – das klingt schon so nach Menschenhandel. Man arbeitet sich den Buckel rund, und am Ende bleibt nichts übrig.“ 1.800 Euro hatte ihm das erste Zeitarbeitsunternehmen im Gespräch angeboten. „Das ist nicht viel, aber genug für meine Familie zum Leben“, hatte Michael Pottel geantwortet. Allerdings wies ihn sein Gegenüber gleich auf ein Missverständnis hin. Das Angebot war brutto gemeint. Nicht etwa netto.In In

Das Unternehmen Randstad, bei dem er schließlich anheuerte, zahlte ihm aber ein „anständiges und faires Gehalt“, wie Pottel beteuert. Früher mal hat er 4.000 Euro brutto im Monat verdient. Davon ist er auch in seinem neuen Job am Flughafen noch ein Stück entfernt. Aber geärgert hat er sich nie: „Eine Aufgabe zu haben ist für mich wichtiger als die Frage, ob ich ein paar Euro mehr oder weniger im Geldbeutel habe. Ich bin wieder gefragt.“

Der Preis des Wunders

Ob man das nun als Aufstieg oder als Abstieg werten will, ist die Gretchenfrage der deutschen Arbeitsmarktpolitik seit Hartz IV. Sicher ist nur: Das Jobwunder hatte seinen Preis.

So empören sich die Gewerkschaften noch immer über das Regelwerk. „Die Hartz-Reformen haben die Ordnung am Arbeitsmarkt nachhaltig zerstört und den Druck nach unten massiv verschärft“, schimpft etwa DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Der Niedriglohnsektor sei von 16 auf 22 Prozent gestiegen, deswegen fordert der Gewerkschaftsbund grundsätzliche Korrekturen: „Wir brauchen vor allem einen gesetzlichen Mindestlohn, damit die Menschen von ihrer Arbeit leben können, die gleiche Bezahlung für Leiharbeiter und Einschränkungen bei den Befristungsregelungen“, sagt Buntenbach.

Die Wissenschaft ist in dieser Frage gespalten. Joachim Möller, Direktor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), hält Nachbesserungen für dringend erforderlich: „Die Hartz-Reformen waren immens wichtig, sie sind aber in einigen Punkten über das Ziel hinausgeschossen.“ Der Preis dafür seien ein größer werdender Niedriglohnsektor und mehr Ungleichheit. Die Politik müsse gegensteuern.

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