Debatte "Konsumverweigerung bringt uns nicht weiter"

Kann es Fortschritt ohne Wirtschaftswachstum geben? Und mit welchen Indikatoren lassen sich Wohlstand und Lebenszufriedenheit überhaupt sinnvoll messen? Ein Streitgespräch über neue Wege des Wirtschaftens, eine Kultur des Verzichts - und die Gefahr einer Ökodiktatur.

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Ernst Ulrich von Weizsäcker (li.) und Karl-Heinz Paqué in einem Streitgespräch über neue Wege des Wirtschaftens, eine Kultur des Verzichts - und die Gefahr einer Ökodiktatur. Quelle: Michael Dannenmann für WirtschaftsWoche

Herr Paqué, Herr von Weizsäcker, gut 40 Jahre nachdem der Club of Rome seine zukunftspessimistische Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlichte, haben wachstumskritische Schriften und Ideen in Deutschland wieder Hochkonjunktur. Warum gerade jetzt?

Von Weizsäcker: Weil immer mehr Menschen erkennen, dass wir nicht viel dazugelernt haben. Auf der Welt wird es immer enger, es gibt fast drei Milliarden Menschen mehr als damals. Der globale Ressourcenverbrauch ist gigantisch gewachsen. Zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem CO₂-Ausstoß gibt es immer noch einen gefährlichen Gleichklang.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Paqué: Ich sehe das weniger apokalyptisch als Sie. Das Bewusstsein für Umweltfragen ist Lichtjahre entfernt vom Zustand damals. Die Wachstumsdebatte folgt historischen Zyklen; es gab sie in den Dreißigerjahren, es gab sie in den Siebzigerjahren, und sie verstummte jeweils ziemlich schnell, wenn sich infolge starken Wachstums die Lebensqualität der Menschen verbesserte. Richtig ist: Nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es derzeit ein diffuses Gefühl, es könne so nicht weitergehen.

Karl-Heinz Paqué, 56, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Magdeburg und Mitglied der Enquete-Kommission

Herr von Weizsäcker, 1972 lag die deutsche Wirtschaftsleistung bei 436 Milliarden Euro. Seither hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mehr als verfünffacht. Ist das für Sie eigentlich eine gute Nachricht?

Von Weizsäcker: Isoliert gesehen ja. Die schlechte Nachricht lautet: Gleichzeitig sind die CO₂-Emissionen dramatisch gestiegen. Und der Verbrauch von Natur geht nicht nur weiter - er beschleunigt sich sogar.

Paqué: Das Merkwürdige an Wachstumskritikern wie Ihnen ist, dass Sie das Wachstum und den Fortschritt der Vergangenheit immer als gegeben hinnehmen, aber vor dem Wachstum der Zukunft warnen. Fragen Sie mal die vielen Skeptiker, ob sie ihr iPhone gern mit der Telefonwählscheibe der Siebzigerjahre tauschen wollen oder den PC mit der Schreibmaschine. Das will niemand. Auf die zusätzlichen Staatseinnahmen, die das Wachstum gebracht hat, mag auch niemand verzichten. Die Früchte des Wachstums werden auch von seinen schärfsten Kritikern gern geerntet.

Von Weizsäcker: Es geht doch überhaupt nicht um eine pauschale Ablehnung von Wirtschaftswachstum. Das Entscheidende ist, dass wir Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln müssen, um die Zerstörung der Natur zu stoppen. Ich halte als Physiker eine Verfünffachung der Ressourcenproduktivität auf mittlere Sicht für technisch machbar. Damit das aber endlich rentabel wird, brauchen wir eine Art Pingpong zwischen den Ressourcenpreisen und der Ressourcenproduktivität.

"Eine Lenkungswirkung am besten über den Preis"

Was der deutschen Wirtschaft Mut und Angst macht
Konsum Quelle: dpa
Investitionen Quelle: dpa
Angstmacher: EurokriseSie hat sich dank dem Einschreiten der Europäischen Zentralbank (EZB) merklich beruhigt. Seit ihr Chef Mario Draghi Ende 2012 den unbegrenzten Kauf von Staatsanleihen kriselnder Euro-Länder angekündigt hat, hat nach Ansicht der Finanzmärkte die Gefahr einer Staatspleite in Spanien und Italien deutlich abgenommen. Doch die Ruhe könnte sich als trügerisch erweisen. So reagieren die Börsianer zunehmend nervös auf die Umfrageerfolge von Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der bei der Parlamentswahl kommende Woche in Italien wieder kandidiert. Berlusconi will viele Reformen seines Nachfolgers Mario Monti wieder zurücknehmen und beispielsweise die Immobiliensteuer wieder abschaffen. Quelle: REUTERS
Angstmacher: Euro-StärkeDie Gemeinschaftswährung steht unter Aufwertungsdruck. Seitdem die japanische Notenbank ihre Geldschleusen geöffnet hat, ist der Euro um 20 Prozent im Verglich zum Yen gestiegen. Dort sitzen einige der größten Konkurrenten der deutschen Exporteure, darunter Autokonzerne wie Toyota und viele Maschinenbauer. Sie können ihre Produkte dank der Yen-Abwertung billiger anbieten. Quelle: dpa
Auch im Vergleich zu anderen Währungen ist der Euro teurer geworden. Experten warnen bereits vor einem Abwertungswettlauf. Noch können die deutschen Exporteure mit dem Wechselkurs gut leben. Die größere Sorge ist, dass weniger konkurrenzfähige Euro-Länder wie Frankreich oder Italien darunter leiden. Das würde am Ende auch Deutschland treffen, das fast 40 Prozent seiner Waren in die Währungsunion verkauft. Quelle: dpa

Was meinen Sie damit?

Von Weizsäcker: Seit der industriellen Revolution hat sich die Arbeitsproduktivität verzwanzigfacht. Warum? Weil die Löhne immer weiter stiegen und dies auf die Wirtschaft wie eine Produktivitätspeitsche wirkte. Dieses Modell brauchen wir nun für den Rohstoff- und Energiesektor. Wachstum ist auf Dauer nur möglich, wenn wir Rohstoffe und Energie optimal ausnutzen. Und dazu müssen die Preise steigen.

Paqué: Sie wollen ernsthaft die schon jetzt hohen Steuern und Subventionen im Umwelt- und Energiebereich noch weiter erhöhen?

Ernst Ulrich von Weizsäcker (73), ein Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten, ist seit dem Jahr 2012 einer von zwei Präsidenten des Club of Rome und Honorarprofessor an der Universität Freiburg. Quelle: Michael Dannenmann für WirtschaftsWoche

Von Weizsäcker: Eine Lenkungswirkung lässt sich am besten über den Preis erzielen. Derzeit lügen uns die Preise doch schamlos an! Sie sind trotz der jüngsten Steigerungen noch weit von der ökologischen Wahrheit entfernt. Mein Vorschlag ist, die Energiepreise jährlich um so viel Prozent wachsen lassen, wie die Energieeffizienz im Vorjahr zugenommen hat. Die Monatskosten für Energie bleiben dann im Durchschnitt konstant. Und jedes Jahr wird Effizienzverbesserung lukrativer. Das ist aber nur ein Punkt unter vielen, die Marktwirtschaft ökologisch neu zu ordnen. Der Staat muss für Wirtschaft und Verbraucher einen ökologisch verträglichen Ordnungsrahmen setzen.

Wie die Armut in Deutschland aussieht
Der Graben zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden. Auf die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte entfielen 53 Prozent (Stand: 2008, neuere Zahlen liegen nicht vor) des gesamten Nettovermögens. 1998 lag die Quote bei 45 Prozent. Die untere Hälfte der Haushalte besaß zuletzt lediglich gut ein Prozent des Nettovermögens. 2003 waren es drei Prozent. Von 2007 bis 2012 hat sich das Gesamtvermögen der Haushalte trotz der Finanzkrise um weitere 1,4 Billionen Euro erhöht. Quelle: dapd
Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet in Deutschland für einen Niedriglohn von weniger als 9,54 Euro pro Stunde. Ihr Anteil an allen Beschäftigten war im Jahr 2010 mit 24,1 Prozent so groß wie in kaum einem anderen Staat der Europäischen Union (EU). Selbst in Zypern oder Bulgarien gibt es weniger Niedriglöhner. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Unter den 7,1 Millionen Beziehern von Niedriglöhnen hierzulande sind Geringqualifierte fast die Ausnahme: Mehr als 80 Prozent der Geringverdiener in Deutschland hätten eine abgeschlossene Berufsausbildung. Besonders hoch sei der Anteil der Niedriglöhner bei Frauen und Teilzeitbeschäftigten. Quelle: dpa
Der Staat ist ärmer geworden. Sein Nettovermögen schrumpfte zwischen Anfang 1992 und Anfang 2012 um über 800 Milliarden Euro, während es sich bei den privaten Haushalten um gut fünf Billionen Euro mehr als verdoppelte. Zu dieser Entwicklung trug die Privatisierungspolitik aller Regierungen in diesem Zeitraum bei. Die Erlöse aus dem Verkauf öffentlichen Tafelsilbers versickerten in den Haushalten. Quelle: dapd
Die „Armutsgefährdungsschwelle“ liegt nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes bei 952 Euro im Monat. Je nach Datengrundlage gilt dies für 14 bis 16 Prozent der Bevölkerung. Hauptgrund für Armut ist Arbeitslosigkeit. Auch für Alleinerziehende ist das Risiko hoch. Quelle: dpa
Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor stieg und lag zuletzt zwischen 21 und 24 Prozent. Im Jahr 2010 waren 7,9 Millionen Arbeitnehmer betroffen. Die Niedriglohngrenze liegt bei 9,15 Euro pro Stunde. Quelle: dpa
Nur 2,6 Prozent der über 65-Jährigen sind derzeit auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Quelle: dpa
Die Arbeitslosigkeit sank im Berichtszeitraum auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen reduzierte sich zwischen 2007 und 2012 von 1,73 Millionen auf 1,03 Millionen oder um mehr als 40 Prozent. In der EU weist Deutschland aktuell die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit aus - begünstigt von der Hartz-IV-Gesetzgebung: Seit 2005 müssen Langzeitarbeitslose auch schlecht bezahlte Jobs annehmen. Die Ausweitung von Niedriglohnsektor und atypischer Beschäftigung (Zeitarbeit, Teilzeitarbeit, Minijobs) ging laut Bericht nicht zulasten von Normalarbeitsverhältnissen. Quelle: dapd

Paqué: Das ist sehr theoretisch gedacht. Wie wollen Sie das in Einklang bringen mit den Wünschen der Menschen? Sicher, man kann zum Beispiel die Siedlungsstruktur verändern und den Energie- und Flächenverbrauch senken, indem man die Leute in Städten zusammenpfercht. Das Problem ist nur: Die Leute wollen das vielleicht gar nicht. Ihr Traum von Eigenheim und Garten ist ihnen wichtig, und sie haben auch ein Recht dazu.

Von Weizsäcker: Ich rate Ihnen, sich einmal Luftbilder von Atlanta und Barcelona anzuschauen. Die beiden Städte haben ungefähr gleich viele Einwohner - aber die Fläche Atlantas ist etwa 25 Mal größer. Ein Verkehrspolitiker, der da ein rentables Nahverkehrssystem aufbauen will, hat keine Chance. Urbane Verdichtung kann Lebensqualität bringen, wie etwa im Freiburger Stadtteil Vauban. Da stehen nur Passivhäuser, die Leute verbrauchen praktisch keine Heizenergie. 80 Prozent der Leute haben kein Auto, aber Zugang zu Carsharing. Die Kinderzahl ist überdurchschnittlich hoch - eben weil dort die Lebensqualität sehr hoch ist.

Wann driftet die politische Lenkung ins Totalitäre?

Schmutziges Wachstum
Brasilien Quelle: dpa
Platz 12: ChinaVeränderung CO2-Ausstoß (zum Vorjahr): +10,4% Zuwachs Bruttoinlandsprodukt: +10,3% Quelle: dpa
Platz 11: IndienVeränderung CO2-Ausstoß (zum Vorjahr): +9,1% Zuwachs Bruttoinlandsprodukt: +9,7% Quelle: dapd
Südkorea Quelle: AP
Japan Quelle: AP
Russland
USA Quelle: Reuters

In einer aktuellen Studie argumentiert der Club of Rome, die westlichen Demokratien seien in der Umweltpolitik unfähig zu weitreichenden Entscheidungen. Autor Jorgen Randers rät, sich am "effizienten" Regierungsstil Chinas zu orientieren. Wollen Sie eine Ökodiktatur?

Von Weizsäcker: Nein. Einen klaren Ordnungs- und Preisrahmen zu setzen ist das Gegenteil von Diktatur. Der Rahmen muss diejenigen begünstigen, die klima- und umweltverträglich produzieren und konsumieren. Dann ist auch Wachstum kein Problem mehr. Autoritäre Formen der Umweltpolitik sind nur im Ausnahmefall richtig.

Paqué: Hier sind wir an einem fundamentalen Punkt der Debatte zwischen Wachstumsbefürwortern und -kritikern. Es geht um die Frage, wann politische Lenkung ins Totalitäre abdriftet. Da rate ich zu größter Sensibilität, die ich bei manchen Wachstumskritikern vermisse. Wenn der Staat zum Beispiel bestimmte Produkte immer weiter künstlich verteuert, schafft er irgendwann einen Prohibitivpreis, der Geringverdiener vom Konsum ausschließt. Wenn man das, was Sie wollen, konsequent zu Ende denkt, läuft alles auf eine enorme Freiheitsbeschränkung hinaus. Mit Marktwirtschaft und dem Lebensglück breiter Bevölkerungsschichten hat das nichts mehr zu tun.

Von Weizsäcker: Freiheitsbeschränkungen entstehen auch durch gefährliche Naturzerstörung. Nach Ihrer Logik wäre jedes Gesetz eine Art von Freiheitsberaubung. Ich sage nicht, dass der Staat den Ingenieuren in den Unternehmen vorschreiben soll, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Aber er kann Vorgaben machen, welche Anforderungen die Produkte erfüllen müssen.

Wie stark Europas Volkswirtschaften geschrumpft sind
Portugal: Für die portugiesische Wirtschaft sieht es besonders düster aus. Im vierten Quartal ist sie das fünfte Mal in Folge geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank um 1,3 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Volkswirte hatten sogar einen noch stärkeren Rückgang um 1,5 Prozent erwartet. Portugal erhält derzeit Hilfe aus dem europäischen Rettungsfonds EFSF. Das Krisenland hat weitreichende Spar- und Reformmaßnahmen durchgeführt, die laut Volkswirten zunächst das Wirtschaftswachstum belasten. Für 2012 sind die EU-Kommission eine Verschlechterung der Situation. Sie rechnet mit einem Wachstumsrückgang von 3,3 Prozent. Quelle: dpa
Italien: Auch Italien ist laut Regierungskreisen zum Jahresende in eine Rezession gerutscht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging im vierten Quartal um 0,7 Prozent zurück. Italien konnte sich zuletzt etwas aus dem Klammergriff der Schuldenkrise befreien und unter der neuen Technokratenregierung von Ministerpräsident Mario Monti wieder Vertrauen an den Finanzmärkten zurückgewinnen. Für 2012 erwartet die EU-Kommission einen Rückgang von 1,3 Prozent. Quelle: dpa
Deutschland: Auch die deutsche Wirtschaft hat zum Ende des vergangenen Jahres einen kleinen Dämpfer erhalten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging im vierten Quartal 2011 um 0,2 Prozent im Vergleich zum Vorquartal zurück, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden mitteilte. Bei einer ersten Schätzung Ende Januar waren die Statistiker von einem Rückgang um etwa ein Viertel Prozent ausgegangen. Positive Impulse für die Wirtschaft kamen im viertel Quartal von den Investitionen: Vor allem Bauinvestitionen waren deutlich höher als im dritten Quartal 2011. Der Außenhandel hatte hingegen zum Jahresende einen negativen Effekt auf die deutsche Wirtschaft. Auch die Ausgaben der Verbraucher waren im Vergleich zum Vorquartal leicht rückläufig, wie die Statistikbehörde mitteilte. Für 2012 sieht die EU-Kommission ein Wachstum von 0,6 Prozent. Quelle: dpa
Belgien:Die belgische Wirtschaft ist 2011 bereits in zwei aufeinander folgenden Quartalen geschrumpft. Das BIP im dritten Quartal fiel um 0,1 Prozent und im letzten Quartal um 0,2 Prozent, wie die Belgische Nationalbank in Brüssel mitteilte. Insgesamt sei die Wirtschaft 2011 aber dank der ersten Jahreshälfte um 1,9 Prozent gewachsen. Quelle: AP
Spanien:Die spanische Wirtschaft ist im letzten Quartal 2011 um 0,3 Prozent geschrumpft . Das Nationale Statistik-Institut (INE) führte den Abschwung vor allem auf einen Einbruch der Inlandsnachfrage zurück, der durch das Wachstum der Exportwirtschaft nicht ausgeglichen werden konnte. Im dritten Quartal 2011 war die spanische Wirtschaft im Quartalsvergleich stagniert. 2012 erwartet die EU-Kommission einen Wirtschaftsrückgang von einem Prozent. Quelle: Reuters
Großbritannien:Großbritanniens Wirtschaft ist im vierten Quartal 2011 etwas stärker als erwartet geschrumpft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) fiel im Vergleich zum Vorquartal um 0,2 Prozent. Grund seien unter anderem Rückgänge bei der Strom- und Gasproduktion, weil die Menschen wegen der warmen Witterung die Heizung ausgeschaltet hätten. Auch im Produktionssektor und beim Konsum gab es leichte Einbußen, teilte die Nationale Statistikbehörde mit. Am Dienstagabend hatte der Chef der Bank of England, Mervyn King, gewarnt, die britische Wirtschaft stehe vor einem „beschwerlichen, langen und unebenen“ Erholungsweg. Im dritten Quartal war die britische Wirtschaft noch um 0,6 Prozent zum Vorquartal gewachsen. Quelle: Reuters
Frankreich: Eine rühmliche Ausnahme gab es unter den großen EU-Ländern. Die französische Wirtschaft wuchs zwischen Oktober und Dezember überraschend um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Volkswirte hatten zuvor einen Rückgang um 0,2 Prozent erwartet. Quelle: dpa

Wachstumsskeptiker wie der britische Ökonom Tim Jackson propagieren einen Wohlstand ohne Wachstum, der vor allem durch Konsumverzicht erreicht werden soll. Jackson sieht eine "potenziell zerstörerische Kraft in der unerbittlichen Jagd der Verbraucher nach Neuem". Brauchen wir eine Kultur des Konsumverzichts?

Von Weizsäcker: Ich bin froh, dass es Vordenker wie Tim Jackson gibt. Aber in diesem Punkt teile ich seine Meinung nicht. Eine generelle Konsumverweigerung bringt uns nicht weiter. Verzicht kann gleichwohl positive Wirkungen haben. Ich selbst etwa lebe in einem energieautarken Passivhaus - und kann auf eine Heizung verzichten.

Paqué: Es gibt keinen nachhaltigen Wohlstand ohne Wachstum, das zeigt die Wirtschaftsgeschichte. Wer keine marktfähigen Ideen mehr hat, fällt im globalen Wettbewerb zurück - und verarmt. Was ist an einer ideenlosen Welt wünschenswert? Unsere globalen Probleme lassen sich eben nicht durch Verzicht lösen - sondern allein durch technischen Fortschritt.

"Das BIP ist als zentraler Indikator unverzichtbar"

Hier ist die Luft raus
ChinaChinas Wirtschaft wuchs im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahr um 7,7 Prozent, das war weniger als im Vorquartal und blieb auch unter der Analystenprognose von acht Prozent. "Die allseits erhoffte Beschleunigung der wirtschaftlichen Aktivität in China blieb trotz großzügiger Kreditvergabepolitik aus", sagten Experten. Nun mehren sich die Sorgen, dass die asiatische Konjunkturlokomotive an Schwung verliere, erklärten die Analysten der National-Bank die Reaktion an den Finanzmärkten. Das schwächere Wirtschaftswachstum Chinas hat bereits die Anleger an den Finanzmärkten vergrault, Verschärfungen im Immobiliensektor und eine höhere Inflation führten zu einem Kursrückgang chinesischer Aktien. Moody's senkte den Ausblick für die Chinas Kreditwürdigkeit von positiv auf stabil, woraufhin sich Kupfer und Öl deutlich verbilligten, da Investoren eine schwächere Nachfrage aus der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt fürchteten. Quelle: Reuters
BrasilienBrasilien war 2012 ein beliebtes Investitionsziel: Anleger brachten insgesamt 65,3 Milliarden Dollar in das lateinamerikanische Land. Trotzdem nahm das Wachstum über das gesamte Jahr 2012 um 0,9 Prozent ab. Nur im letzten Quartal stieg das Wachstum um -1,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In den ersten beiden Monaten 2013 gingen daraufhin die Zuflüsse von neun Milliarden Dollar im selben Zeitraum des Vorjahres auf 7,5 Milliarden Dollar zurück.Auch die Kurse brasilianischer Aktien gingen wegen des schwächeren Real, der höheren Arbeitslosigkeit, der Inflation und des relativ geringeren BIP-Wachstums auf Talfahrt. Quelle: dpa
IndienDie Reserve Bank of India (RBI) hat ihre Wachstumsprognose für 2013 von 5,8 Prozent auf 5,5 Prozent gesenkt. Behalten die Experten Recht, wäre das die niedrigste Wachstumsrate seit 2003. Schon 2012 hatte das Bruttoinlandsprodukt unter der schwächelnden Landwirtschaft und der Schwäche im Dienstleistungssektor zu leiden. Das BIP-Wachstum Indiens ging von 5,3 Prozent im dritten auf 4,5 Prozent im vierten Quartal zurück. Hoffnung ruht jetzt auf dem Vorhaben der Zentralbank, die Richtlinien für Banklizenzen an private und öffentliche Gesellschaften zu vereinfachen. Dadurch könnten weitere Banken gegründet werden. Quelle: AP
Südafrika2012 ist die südafrikanische Wirtschaft um 2,5 Prozent gewachsen, nach 3,5 Prozent im Jahr 2011. Die Kapitalzuflüsse ausländischer Investoren (foreign direct investments) nahmen im Jahr 2012 sogar um 24 Prozent ab. Mit Kapitalzuflüssen in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar war das das schlechteste Ergebnis seit dem Jahr 2010. Grund für das rückläufige Wachstum und die daraus resultierende Investorenflucht sollen hohe Treibstoffpreise, Inflation, eine Abwertung des Rand sowie eine schwächere Auslandsnachfrage nach südafrikanischen Exporten sein. Dementsprechend senkte die südafrikanische Regierung auch für 2013 die Prognose: Statt 3,0 Prozent soll das BIP nur um 2,7 Prozent wachsen. Quelle: dpa
TürkeiIn der Türkei schwächelt die Binnennachfrage. Das Wirtschaftswachstum im Jahr 2012 betrug nur noch 2,2 Prozent - das ist der niedrigste Wert seit 2009. In den Jahren 2010 und 2011 erzielte die Türkei noch Wachstumsraten von neun Prozent. Quelle: AP
RusslandAuch in Russland fiel das Wirtschaftswachstum auf den niedrigsten Stand seit 2009 zurück: 2012 erreichte das BIP-Wachstum nur 3,4 Prozent. 2011 waren es noch 4,3 Prozent Wachstum gewesen. Analysten hoffen auf die rund 30 Wirtschaftsabkommen, die die russische Regierung mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping geschlossen hat. Energielieferungen und Militärtechnologie könnten die Wirtschaft beider Länder ankurbeln. Quelle: AP
SüdkoreaInsgesamt ist das südkoreanische BIP im Jahr 2012 um zwei Prozent gewachsen - das ist das schlechteste Ergebnis seit 2009. Schuld an der vergleichsweise mauen Entwicklung sind die schwachen Exportzahlen, der unerwartet schwache globale Aufschwung und geringere Investitionen. Auch 2013 soll es nicht viel besser werden: Das Finanzministerium senkte seine Wachstumsprognose von 3,0 auf 2,3 Prozent. Quelle: AP

Renommierte Ökonomen wie der Amerikaner Robert Gordon argumentieren aber, dass die Innovationsdynamik in Zukunft deutlich nachlassen wird - weil bahnbrechende neue Erfindungen ausbleiben.

Von Weizsäcker: Die von Gordon beschriebenen Sättigungsphänomene kann man vernachlässigen. Es mag sein, dass viele "low hanging fruits" - also Innovationen, die einem mehr oder weniger in den Schoss fallen - abgeerntet sind. Ich sehe aber noch gigantisches Innovationspotenzial etwa auf den Gebieten Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit.

Paqué: In dem Punkt teile ich Ihren Optimismus. Neue Ideen schaffen neue Fragestellungen und diese wiederum einen Anreiz weiterzusuchen. Solche Anreize werden irgendwann Marktfrüchte tragen. Die globalen Voraussetzungen sind gut, denn bei der Innovationskraft kommt es auch auf die absolute Anzahl von Köpfen an. Chinesen, Inder, Indonesier, Brasilianer - sie alle wachsen immer stärker in die Weltwirtschaft hinein, bringen ihr Wissen ein und entwickeln es weiter. Das stärkt die Wachstumskräfte.

Umstritten ist allerdings, wie sich Wachstum und Wohlstand am besten messen und international vergleichen lassen. Das BIP, also der Wert aller produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen, hat als Indikator seine Schwächen.

Von Weizsäcker: Das BIP misst den Umsatz, und am Umsatz hängen Beschäftigung und Steueraufkommen. Das sind beides politische Heiligtümer...

Paqué: ...zu Recht...

Von Weizsäcker: ...und auf eine Politik der BIP-Minderung zu hoffen ist daher illusorisch. Ich würde das BIP als Wohlstandsindikator auch gar nicht abschaffen wollen, sondern es lieber relativieren. Ökonomen haben ja längst nachgewiesen, dass es keinen stabilen Zusammenhang zwischen steigendem Wirtschaftswachstum und dem persönlichen Glück der Menschen gibt.

Paqué: Das stimmt so nicht. Das Auseinanderklaffen von BIP und Lebenszufriedenheit ist wissenschaftlich umstritten. Dass steigende Einkommen die Zufriedenheit nicht weiter erhöhen, gilt in der Regel nur bei sehr hohen Einkommen. Bei Geringverdienern gibt es einen klaren Zusammenhang. Ich sage ganz klar: Das BIP ist als zentraler Indikator unverzichtbar. Beim BIP wissen wir genau, was wir messen. Nämlich die marktfähige Produktion einer Volkswirtschaft...

Von Weizsäcker: ...einschließlich aller Verkehrsunfälle, Überschwemmungen und sonstiger unschöner Ereignisse. Weil daran immer anschließend jemand verdient, steigt das BIP. Verkehrsunfälle als Wohlstand, das ist irgendwie absurd.

Paqué: Im Zuge des Wirtschaftens und menschlichen Zusammenlebens kommt es naturgemäß zu Schäden, und werden die beseitigt, schafft dies einen Mehrwert und erhöht die Stromgröße des BIPs. Wollen Sie die Reparatur eines Unfallwagens anders messen als einen Reifenwechsel? Wenn wir anfangen, sinnvolle und nicht sinnvolle Wertschöpfung zu unterscheiden, geraten wir in einen Sumpf von Willkür.

Von Weizsäcker: Ich gestehe Ihnen zu: Realistisch betrachtet lässt sich das BIP als zentraler Indikator - noch - nicht ersetzen. Die Kritik am BIP ist trotzdem berechtigt und jede ideologische Überhöhung dieses Indikators überflüssig. Wir haben längst Kategorien jenseits des Wachstums, etwa die Grundrechte in der Verfassung. Auch den Atomausstieg nach Fukushima haben wir unabhängig von wirtschaftlichen Fragen getroffen. Es macht keinen Sinn, zerstörerische Formen des Wachstums in die Wohlstandsmessung einfließen zu lassen. Daher müssen wir bei der Beurteilung, wie gut es einer Gesellschaft geht, eine Reihe anderer Indikatoren hinzunehmen.

"Sicher nicht den Stein der Weisen gefunden"

Die größten Wirtschaftsmächte 2060
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat in ihrer Langfristprognose dramatische Veränderungen in der Weltwirtschaft bis 2060 prognostiziert. "Schnell wachsende Schwellenländer werden in den kommenden 50 Jahren einen immer größeren Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung erbringen", heißt es dazu bei der OECD. Die alten Industrienationen werden das Nachsehen haben. Die Verschiebung in Richtung Niedriglohnländer werde dort dazu beitragen, die Lebensstandards zu verbessern. "So dürfte sich etwa das Pro-Kopf-Einkommen in den ärmsten Ländern bis 2060 vervierfachen", so die OECD. Nachfolgend die Top-Ten der Wirtschaftsnationen, wie sie die OECD für das Jahr 2060 vorhersagen. Quelle: REUTERS
Platz 10: Deutschland Quelle: dpa
Platz 9: RusslandDie einstige Weltmacht kann sich dank hoher Rohstofferträge besser halten. Dennoch würde Russland um drei Plätze im internationalen Vergleich zurückfallen und nur noch 2,3 Prozent zur Weltwirtschaftsleistung beisteuern. 2011 waren es noch 3,6 Prozent. Im Schnitt würde Russland bis 2060 noch um jährlich 1,9 Prozent wachsen. Quelle: AP
Platz 8: GroßbritannienDie Briten lägen der OECD-Prognose 2060 wieder zwei Plätze vor Deutschland, statt wie 2011 zwei Plätze dahinter. Die Insel soll dann für 2,4 Prozent der Wirtschaftsleistung verantwortlich sein und damit um nur einen Platz abrutschen. 2011 lag das Land mit einem Anteil von 3,5 Prozent auf Platz sieben. Das Durchschnittswachstum schätzten die Experten für die nächsten Jahrzehnte auf jährlich 2,1 Prozent. Quelle: REUTERS
Platz 7: MexicoDas Schwellenland gehört zu den Wirtschaftstigern der Zukunft und soll seine wirtschaftliche Bedeutung in der Welt in den kommenden fünf Jahrzehnten um sieben Prozent steigern und dann 2,7 Prozent zum Weltwirtschaftsprodukt beisteuern. Damit würde Mexico um vier Plätze vorrücken. Die OECD schätzt für Mexico eine jährliche Wachstumsrate von 3,0 Prozent im Durchschnitt. Quelle: dapd
Platz 6: IndonesienIndonesien wird eine regelrechte Aufholjagd starten. 2011 rangierte das Inselreich noch auf Platz 16 und hatte einen Anteil am globalen Wirtschaftsprodukt von 1,7 Prozent. Der soll mit einem jährlichen Wachstum um 4,1 Prozent auf immerhin 3,0 Prozent ansteigen. Quelle: REUTERS
Platz 5: JapanDie Japaner werden noch mehr als andere alte Industrienationen durch ihre Überalterung gebremst. 2060 wird das für Japan dennoch nur eine Verschlechterung um zwei Plätze bedeuten; der Anteil an der Weltwirtschaft bis dahin von 6,7 auf 3,2 Prozent zurückgehen. Das Durchschnittswachstum läge bis dahin laut Prognose bei 1,3 Prozent. Quelle: dpa

Zum Beispiel?

Von Weizsäcker: Ein guter Ansatzpunkt ist der Human Development Index der Vereinten Nationen. Dieser setzt sich aus den drei Komponenten BIP, Gesundheit und Bildung zusammen. Dies ist eine vernünftige erste Annäherung - auch wenn hier die Umweltqualität fehlt.

Paqué: Sieger in diesem Ranking war 2007 übrigens Island. Mittlerweile stehen die nur noch auf Platz 13, obwohl Gesundheitswesen, Sozialleistungen und Lebensqualität da immer noch hervorragend sind. Offenbar war den Machern des Rankings nach der Finanzkrise und dem finanziellen Zusammenbruch Islands das Ergebnis so peinlich, dass man das Land wieder vom Thron geholt hat. Da steckt viel Willkür drin. Ich habe nichts gegen multidimensionale Ansätze. Aber man muss bei der Interpretation aufpassen, was da genau gemessen und wie es gewichtet wird.


Besteht bei alternativen Wohlstandsmessungen nicht die Gefahr, dass sich reformunwillige Politiker dahinter verstecken - weil Wachstum nur noch ein Indikator unter vielen ist?

Paqué: Aus meiner Sicht ist die Gefahr eher, dass man die gesellschaftliche Diskussion verwässert. Wenn das BIP um drei Prozent zulegt, weiß jeder, was das bedeutet. Wenn der Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung einer Gesellschaft widergibt, von 0,24 auf 0,26 steigt, wird die Sache arg abstrakt. Da kann jeder reininterpretieren, was er möchte, und das geschieht auch - mit heilloser Verwirrung der öffentlichen Diskussion.

Diese Volkswirtschaften geben 2050 den Ton an
Skyline Berlin schön Quelle: dpa
Eine Frau verkauft Hülsenfrüchte Quelle: REUTERS
Platz 9: Russland und der IranDank erneut hoher Ölpreise und einer stark steigenden Konsumnachfrage ist das russische BIP im Jahr 2011 laut amtlicher Statistik um 4,3 Prozent gewachsen. Für die kommenden drei Jahre sagen die HSBC-Experten Wachstumsraten in ähnlicher Größenordnung voraus. Sie gehen davon aus, dass Russland bis 2050 durchschnittlich um 3,875 Prozent wächst. Damit würde das Riesenreich in der Liste der größten Volkswirtschaften der Welt von Rang 17 (2010) auf Rang 15 steigen. Ebenfalls eine durchschnittliche Wachstumsrate von 3,875 Prozent bis 2050 prophezeit die britische Großbank dem Iran. Im Jahr 2011/2012 betrug das Bruttoinlandsprodukt Schätzungen zufolge circa 480 Milliarden US-Dollar. Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen Irans zählen die Öl- und Gasindustrie, petrochemische Industrie, Landwirtschaft, Metallindustrie und Kfz-Industrie. Die Inflationsrate wird von offizieller Seite mit 22,5 Prozent angegeben, tatsächlich liegt sie bei über 30 Prozent. Die Arbeitslosenrate beträgt offiziellen Angaben zufolge 11,8 Prozent. Quelle: dpa-tmn
Ginza-Viertel in Tokio Quelle: dpa
Mexikanische Flagge Quelle: dapd
Copacabana Quelle: AP
Baustelle in Jakarta Quelle: AP

Sie selbst sind Mitglied einer Enquete-Kommission, die Vorschläge für eine neue Wohlstandsmessung machen soll und gerade ihren Abschluss-bericht vorlegt. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?

Paqué: Wir haben sicher nicht den Stein der Weisen gefunden. Angesicht der politischen Heterogenität der Kommission haben wir aber ein pragmatisches Ergebnis erzielt mit Vorschlägen, wie sich die klassische Wachstumsmessung ergänzen lässt - etwa indem wir Faktoren wie Schulden, Einkommensverteilung und Beschäftigungslage einbeziehen.

"Ein Equity-Index könnte das BIP trefflich ergänzen"

Wachstumsstrategien für Europa
François Hollandes Mission lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Wachstum. Der neue französische Präsident hat sich zum Ziel gesetzt, Europa die seiner Meinung nach einseitige Ausrichtung auf die Sanierung der Staatsfinanzen auszutreiben und den Kontinent damit aus der Wirtschaftskrise zu führen. Das Thema ist keine Erfindung Hollandes - die EU-Regierungschefs haben sich immer wieder damit beschäftigt, wie der Kontinent Rezession und Arbeitslosigkeit entrinnen kann. Aber die Debatte um die richtige Strategie erhält durch die Wahl des Sozialisten eine ganz neue Dynamik. Quelle: dpa
Die Leitfrage dabei lautet: Wie lässt sich die Wirtschaft ankurbeln, ohne dafür viel Geld in die Hand zu nehmen? Schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme gelten nicht als Option - schließlich sind die Staatskassen leer. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso propagiert daher, "auf wachstumsfreundliche Art und Weise zu sparen". Nach Ansicht vieler Ökonomen lässt sich die Konjunktur nur dann ankurbeln, wenn Wirtschafts- und Finanzpolitiker sowie Notenbanker einige bislang als unantastbar geltende Prinzipien aufgeben. Quelle: dpa
1. Weniger SparenDie heftigen Sparprogramme in Griechenland, Spanien, Italien und Co. sind nach ihrer Einschätzung Teil des Problems, nicht Teil der Lösung: „Der derzeitige Austeritätskurs ist zu hart“, sagt der Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Gustav Horn. Die Sparziele sollten auf vier bis fünf Jahre gestreckt werden. Ähnlich argumentiert Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank: „Wer Wachstum will, darf die Austeritätspolitik in den Krisenländern nicht übertreiben.“ Quelle: dapd
Barroso setzt dabei unter anderem auf die von ihm vorgeschlagenen Projektbonds. Damit will die EU-Kommission dieses und nächstes Jahr private Investitionen in Höhe von 4,5 Milliarden Euro in Infrastrukturprojekte in den Bereichen Verkehr und Energie anstoßen. Die EU selbst soll die privaten Investitionen mit 230 Millionen Euro ins Rollen bringen. Quelle: dapd
2. Unkonventionelle GeldpolitikDie Europäische Zentralbank kann nach Auffassung von Ökonomen mehr für das Wachstum tun. Die EZB sei deutlich restriktiver als die Notenbanken in vielen anderen Industrieländern, betont etwa Patrick Artus, Chefvolkswirt der französischen Investmentbank Natixis. So seien die kurz- und langfristigen Zinsen nach Abzug der Inflationsrate deutlich höher als in den USA oder Großbritannien. Um Abhilfe zu schaffen, könnte die EZB die Leitzinsen von derzeit einem Prozent auf die Untergrenze von null senken - so, wie es die Zentralbanken in den USA und in Großbritannien schon vor mehreren Jahren getan haben. Quelle: dpa
Noch wichtiger ist nach Ansicht vieler Beobachter aber, dass die EZB die Panik auf dem Markt für Staatsanleihen bekämpft - indem sie signalisiert, dass sie im äußersten Notfall als Käufer agiert. Europas Kernproblem sei die Gefahr, dass die kleineren Länder größere Staaten wie Italien anstecken, so Schmieding. „Das Risiko einer Finanzmarktpanik könnte die EZB mit solch einer Ankündigung in den Griff bekommen“, glaubt der Volkswirt. An den Finanzmärkten würden die Risikoaufschläge sinken, Staaten wie Unternehmen könnten sich leichter refinanzieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werde die EZB eine solche Ankündigung gar nicht einlösen müssen, sagt IMK-Chef Horn: „Das ist wie im Kalten Krieg: Da hat es gereicht, seine Atomwaffen zu zeigen.“ Quelle: Reuters
3. Sanierung der BankenEin stabiles, funktionierendes Bankensystem ist Grundvoraussetzung für eine prosperierende Volkswirtschaft - viele Geldinstitute in der Euro-Zone gehen aber nach wie vor am Stock und zaudern bei der Vergabe von Krediten. „Wir brauchen dringend eine Sanierung und Rekapitalisierung der Banken“, betont Oxford-Professor Clemens Fuest. „So kann die Politik einen katastrophalen Absturz der europäischen Wirtschaft verhindern.“ Zudem brauche die Währungsunion eine einheitliche Bankenaufsicht und Regeln dafür, wie in Schieflage geratene Banken saniert werden. Quelle: Reuters

Das Kommissionsmitglied Meinhard Miegel sieht das kritischer. Angesichts von zehn Leitindikatoren hält er das neue Modell für zu komplex.

Paqué: Herr Miegel will das BIP als zentralen Indikator ersetzen. Davor kann ich nur warnen. Ich gebe ihm recht, dass es dieses Sammelsurium nicht leicht haben wird, das BIP in der Öffentlichkeit vom Thron zu stoßen.

Von Weizsäcker: Gleichwohl ist es ein Verdienst der Kommission, ein solches Set von Indikatoren überhaupt zusammenzustellen. Das kann aber nur ein Zwischenschritt sein. Ich halte es für überfällig, bei der Wohlstandsmessung die immensen Schäden durch soziale Ungleichheit einzubeziehen. Dies hat bereits ein von der französischen Regierung eingerichtetes und von US-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz geleitetes Expertengremium angeregt. Ein "Equity-Index" könnte das BIP trefflich ergänzen. Es ist erwiesen, dass in Staaten mit hoher Ungleichheit bestimmte Phänomene verstärkt auftreten, etwa Krankheiten, Schulversagen und Kriminalität.

Paqué: So einfach geht das nicht. In den USA etwa gibt es eine viel größere Ungleichheit als bei uns, und sie gab es schon immer, typisch für ein Einwanderungsland. Die Amerikaner sind aber nicht bereit, einen Sozialstaat europäischer Prägung zu schaffen, der diese Ungleichheit verringert. Deshalb müssten sie, was die Lebensqualität betrifft, einen solchen Indikator international mit den Präferenzen der Menschen gewichten - praktisch eine unlösbare Aufgabe. Und auch moralisch fragwürdig: Wir sollten uns davor hüten, unterschiedliche Gesellschaftsmodelle von Demokratien zu "gewichten".

Gibt es schon Reaktionen der Politik, wie man das Gutachten verwenden wird?

Paqué: Das Interesse der Öffentlichkeit ist erheblich stärker als bei früheren Enquete-Kommissionen. Ich glaube daher nicht, dass die Politik den Bericht komplett ignoriert.

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