Zugegeben, es ist nicht alles in Ordnung mit dem Journalismus und der politischen Diskurskultur in Deutschland. Denn diejenigen, die der Presse das Lügen vorwerfen, werfen ihr ja nicht wirklich das Lügen im Wortsinne vor. Das unpassende Wort offenbart die Wut und den Frust nicht besonders (wort)mächtiger Menschen angesichts der in der deutschen Gesellschaft und Politik vorherrschenden und handlungsleitenden Normen. Man weiß zwischen den Kategorien Wahrheit und Meinung nicht zu unterscheiden.
Die im vergangenen Jahr steil ansteigende Verwendungshäufigkeit des Begriffs „Lügenpresse“ ist das beängstigende Indiz einer zunehmenden Verrohung der politischen Kultur. Fatal ist jedoch, dass die derart Kritisierten in den Parlamenten und Redaktionen die Diskurskultur nicht verteidigen, sondern oft nicht viel kultivierter zurückschießen: „Pack“, „Hetze“, „Dunkeldeutschland“.
Auch solche Begriffe reduzieren den politischen Diskurs auf das Niveau von Schreihälsen, die nicht einmal den Versuch machen, zu verstehen, was denn nun das Anliegen des Andersdenkenden ist. Wer dem politischen Gegner pauschal vorwirft, zu lügen oder zu hetzen, verweigert den Diskurs, macht aus dem demokratischen Wettstreit um Interessen und Meinungen einen Vernichtungskampf. Die einen wollen „Volksverräter“ verjagen, die anderen stellen Facebook-Nutzer öffentlich an den Pranger oder rufen gleich nach dem Verfassungsschutz.
In einer „bunter“ werdenden Gesellschaft muss man sich damit abfinden, dass auch ressentimentgeladene, pöbelnde Schreihälse legitime Interessen artikulieren. Diese Interessen muss man verstehen. Nur die Bereitschaft zum Verständnis des anderen kann verhindern, dass er vom politischen Gegner zum Feind wird.
Was macht also die Lügenpresse-Rufer so wütend auf die Presse?
Zum Verständnis hilft die so genannte Indexing-Hypothese, die der amerikanische Medienwissenschaftler Lance Bennet entwarf: Sie besagt, dass das Meinungsspektrum des Journalismus „indexiert“ sei, sich also an den im politischen Betrieb vertretenen Positionen orientiert, aber kaum davon unabhängige Grundsatzkritik hervorbringt. Bennet und andere Medienwissenschaftler haben diese Hypothese bislang vor allem anhand außenpolitischer Themen in den USA und Deutschland untersucht und weitgehend bestätigt.
Dieses Indexing funktioniert – das ist entscheidend – nicht so verschwörungstheoretisch, wie sich das wohl mancher Pegidist vorstellt. Die Übernahme der Ansichten der politischen Eliten durch Journalisten ist vielmehr das größtenteils unbewusste Ergebnis eines symbiotischen Verhältnisses. Die politisch Mächtigen prägen die Diskussionen in den Medien mit ihren Positionen, weil Journalisten bei der Recherche in aller Regel „der Spur der Macht“ (Lance Bennet) folgen. Ein Journalist, der auf möglichst exklusive Informationen von Wolfgang Schäuble angewiesen ist, wird diese nicht bekommen (zumindest nicht als erster), wenn er Schäubles Politik radikal kritisiert. Und kein Hauptstadtkorrespondent möchte ausgeladen werden, wenn es darum geht, die Kanzlerin in der Regierungsmaschine zum Auslandsbesuch zu begleiten. Vertreter der Indexing-Hypothese sehen daher das, was in den Medien steht, als ein Spiegelbild der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft.