Medienschelte Was hinter dem Lügenpresse-Vorwurf steckt

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Auch pöbelnde Schreihälse haben legitime Interessen

Zugegeben, es ist nicht alles in Ordnung mit dem Journalismus und der politischen Diskurskultur in Deutschland. Denn diejenigen, die der Presse das Lügen vorwerfen, werfen ihr ja nicht wirklich das Lügen im Wortsinne vor. Das unpassende Wort offenbart die Wut und den Frust nicht besonders (wort)mächtiger Menschen angesichts der in der deutschen Gesellschaft und Politik vorherrschenden und handlungsleitenden Normen. Man weiß zwischen den Kategorien Wahrheit und Meinung nicht zu unterscheiden.

Meinungsmanagement basierend auf Vorurteilen - der Journalismus stellt sich mit den Berichten über ausländische Sexhooligans ein schlimmes Zeugnis aus. Was tun? Blöde Frage. Zurück zu den Fakten natürlich! Eine Kolumne.
von Dieter Schnaas

Die im vergangenen Jahr steil ansteigende Verwendungshäufigkeit des Begriffs „Lügenpresse“ ist das beängstigende Indiz einer zunehmenden Verrohung der politischen Kultur. Fatal ist jedoch, dass die derart Kritisierten in den Parlamenten und Redaktionen die Diskurskultur nicht verteidigen, sondern oft nicht viel kultivierter zurückschießen: „Pack“, „Hetze“, „Dunkeldeutschland“.    

Auch solche Begriffe reduzieren den politischen Diskurs auf das Niveau von Schreihälsen, die nicht einmal den Versuch machen, zu verstehen, was denn nun das Anliegen des Andersdenkenden ist. Wer dem politischen Gegner pauschal vorwirft, zu lügen oder zu hetzen, verweigert den Diskurs, macht aus dem demokratischen Wettstreit um Interessen und Meinungen einen Vernichtungskampf. Die einen wollen „Volksverräter“ verjagen, die anderen stellen Facebook-Nutzer öffentlich an den Pranger oder rufen gleich nach dem Verfassungsschutz.

In einer „bunter“ werdenden Gesellschaft muss man sich damit abfinden, dass auch ressentimentgeladene, pöbelnde Schreihälse legitime Interessen artikulieren. Diese Interessen muss man verstehen. Nur die Bereitschaft zum Verständnis des anderen kann verhindern, dass er vom politischen Gegner zum Feind wird.

In diesen Ländern wird das Internet zensiert
ChinaEs ist ein Paradox: 300 Millionen Menschen nutzen in China das Internet - von der Zensur jedoch weiß nur ein Bruchteil der Menschen. Die Regierung nutzt dafür verschiedene Methoden. Filter kommen ebenso zum Einsatz wie Ausspähung und Einschüchterung. Neben pornografischen Seiten sperrt die Regierung Auftritte religiöser und politischer Gruppierungen, welche die Regierung als 'schädlich' ansieht. Auch renommierte Nachrichtenseiten wie BBC oder Social-Media-Portale wie Facebook, Twitter und Youtube sind nicht abrufbar. Nun verschärft China die Zensuren und weitet die Blockaden auf mehrere Internetseiten aus. Der Großanbieter von Cloud-Diensten, Edgecast, räumte am 18.November in einer Mitteilung ein, dass viele seiner Dienste seit kurzem von China aus nicht mehr oder nur noch eingeschränkt abrufbar sind. Die Zensurexperten von Greatfire.org bezeichneten den Schritt als „Versuch, China vom globalen Internet abzuschneiden“. Die Organisation hatte mehrfach angeprangert, dass Chinas Zensurapparat immer ausgefeilter operiere. Teilweise würden Zugriffe auf internationale Internetseiten gezielt verlangsamt, um sie für chinesische Nutzer unbrauchbar zu machen. Chinas Internet wird seit Jahren stark kontrolliert. Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter sowie Youtube oder Webseiten von Menschenrechtsorganisationen und ausländischen Medien wie die „New York Times“ oder die Nachrichtenagentur Bloomberg sind von China aus nicht abrufbar. In diesem Jahr hatte China die Sperren bereits ausgeweitet. Kurz vor dem 25. Jahrestag des Pekinger Massakers im Juni wurde erstmals der Zugang zu allen Google-Diensten in China wie Suche, Gmail, Maps und die Fotoplattform Picasa gesperrt. Quelle: REUTERS
TürkeiSeit 2007 können lokale Strafgerichte Webseiten landesweit sperren lassen, sofern sie pädophile oder pornografische Inhalte, die Verherrlichung von Drogen oder Beleidigungen des Staatsgründers Atatürk zeigen. Jetzt hat die Türkei allerdings nochmals die Kontrolle von Internetnutzern verschärft. Die staatliche Telekommunikationsbehörde TIB darf künftig Internetseiten ohne Gerichtsbeschluss sperren lassen, wenn sie die „nationale Sicherheit“ oder die „öffentliche Ordnung“ gefährdet sieht. Außerdem kann sie Daten über das Surfverhalten von Internetnutzern uneingeschränkt sammeln. Einer entsprechenden Gesetzesänderung stimmte das türkische Parlament in der Nacht zu Mittwoch zu, wie die Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Es ist bereits die zweite Verschärfung in diesem Jahr. Internetanbieter müssen die Anweisung zur Sperrung von Webseiten innerhalb von vier Stunden umsetzen. Erst nach 24 Stunden müsse die Telekommunikationsbehörde die Entscheidung einem Gericht vorlegen, um die Sperrung bestätigen zu lassen.Mit Material von dpa Quelle: dpa
NordkoreaNordkorea gilt als das Land mit der weltweit striktesten Internetkontrolle, steht laut Machthaber Kim Jong Un aber vor einer "industriellen Revolution". In seiner Neujahrsrede kündigte der Machthaber mehr Investitionen in Forschung und Technologie sowie Computer in allen Schulen an. Bisher haben lediglich ein paar tausend Privilegierte Zugang zu einer stark zensierten Version des Internets. Unter den zugelassenen Seiten befinden sich 30 Portale, die die großen Führer "Kim Jong-il" und "Kim Il Sung" preisen. Quelle: dapd
RusslandStaatschef Vladimir Putin plant eine Ausweitung der Netzzensur. Vorgesehen ist ein Twitter-Verbot für Staatsdiener sowie Klarnamenzwang in sozialen Netzwerken. Damit wollen die Machthaber um den Staatschef gegen "extremistische Propaganda" und Blogger, die "politische Spekulation verbreiten", vorgehen. Derweil gehen immer mehr Menschen gegen Putins Regime auf die Straße. Quelle: dpa
AfghanistanSeit Juni 2010 werden in Afghanistan diverse Webseiten und Soziale Netzwerke gesperrt. Darunter Facebook, Youtube, Twitter und Google-Mail sowie Seiten mit den Themen Alkohol, Dating, Glücksspiel und Pornografie. Quelle: dpa
WeißrusslandSeit Januar 2012 ist ein Weißrussland ein Gesetz in Kraft, das Alexander Lukaschenko bereits 2010 auf den Weg gebracht hatte. Danach dürfen ausländische Dienste nicht mehr für E-Mails, Finanztransaktionen, den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen genutzt werden. Außerdem müssen die Provider inhaltliche Zensur durchsetzen und PC-Nutzer sich in Internetcafés ausweisen. Quelle: dpa
MyanmarIn Myanmar können sich die meisten Menschen Computer gar nicht leisten, weshalb die Zensurmaßnahmen der Militärregierung vor allem Internetcafés betreffen. Der Zugang zu oppositionellen Webseiten wird hier systematisch blockiert. Auch E-Mail-Programme von Yahoo oder Hotmail können nicht genutzt werden. Was die User in den Cafés treiben, wird sehr genau beobachtet. Alle fünf Minuten werden die URLs der aufgerufenen Seiten gespeichert. Quelle: REUTERS

Was macht also die Lügenpresse-Rufer so wütend auf die Presse?

Zum Verständnis hilft die so genannte Indexing-Hypothese, die der  amerikanische Medienwissenschaftler Lance Bennet entwarf: Sie besagt, dass das Meinungsspektrum des Journalismus „indexiert“ sei, sich also an den im politischen Betrieb vertretenen Positionen orientiert, aber kaum davon unabhängige Grundsatzkritik hervorbringt. Bennet und andere Medienwissenschaftler haben diese Hypothese bislang vor allem anhand außenpolitischer Themen in den USA und Deutschland untersucht und weitgehend bestätigt.

Dieses Indexing funktioniert – das ist entscheidend – nicht so verschwörungstheoretisch, wie sich das wohl mancher Pegidist vorstellt. Die Übernahme der Ansichten der politischen Eliten durch Journalisten ist vielmehr das größtenteils unbewusste Ergebnis eines symbiotischen Verhältnisses. Die politisch Mächtigen prägen die Diskussionen in den Medien mit ihren Positionen, weil Journalisten bei der Recherche in aller Regel „der Spur der Macht“ (Lance Bennet) folgen. Ein Journalist, der auf möglichst exklusive Informationen von Wolfgang Schäuble angewiesen ist, wird diese nicht bekommen (zumindest nicht als erster), wenn er Schäubles Politik radikal kritisiert. Und kein Hauptstadtkorrespondent möchte ausgeladen werden, wenn es darum geht, die Kanzlerin in der Regierungsmaschine zum Auslandsbesuch zu begleiten. Vertreter der Indexing-Hypothese sehen daher das, was in den Medien steht, als ein Spiegelbild der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft.

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