Nach den Übergriffen von Köln

#Medienkrise

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Die rhetorische Zündelei "besorgter Bürger"

Wenn es ein Problem im Journalismus gibt, dann doch wohl nicht deshalb, weil Dinge zwei Tage später ans Licht kommen, sondern weil zwei Tage vorher über Dinge geurteilt wird, die noch nicht bekannt sind. Und wenn es ein zweites, vielleicht noch schwerer wiegendes Problem gibt, dann doch wohl dies: Dass zwischen der emo-juvenilen Hayalisierung der Nachrichten einerseits, in denen das „Gute“ mit einer Überdosis mentalem Positivismus tatsächlich zum politpublizistischen Programm geworden ist, in dem beispielsweise der „Wir-schaffen-das“-Optimismus des Kanzleramts medial nachgespurt wird, und der rhetorischen Zündelei „besorgter Bürger“ auf Facebook und Twitter andererseits, die sich der Kultivierung ihrer Ressentiments gewidmet und in einen Fundamentalwiderstand zum System halluziniert haben, der Platz erschreckend eng geworden ist für das publizistische Brot-und-Butter-Geschäft: Berichten, was ist. Einordnen, was war. Streiten über, was sein soll (mehr zu den Problemen im Journalismus hier).

Zu den Bedingungen und Voraussetzungen dieses neuen, kontraaufklärerischen Zugangs zur Welt gehören nicht nur die digitale Entmaterialisierung von Information. Nicht nur der dadurch noch einmal gestiegene Beschleunigungs- und Exklusivitätsdruck der Medien. Nicht nur die wachsende Konkurrenz des digitalisierten Nachrichtengeschäfts mit Unterhaltungsformaten auf Tablet und Smartphone.

Nicht nur die deutlich höhere Attraktivität und Netz-Resonanz (!) von Meinungsbeiträgen gegenüber ausgenüchterter Sachberichterstattung (Klickzahlen). Und auch nicht nur die branchentypische Neigung zur Selbstverbilligung ihrer Produkte (Kostenlos-Kultur), die das Berufsbild des Journalisten aldisiert hat. Sondern vor allem die Allgegegenwart der asozialen Medien, das heißt: die jedem Facebook-Nutzer heutzutage offen stehende Möglichkeit, seine Gedanken in Echtzeit duplizieren, seine Wahrnehmung der Welt kommentierend verdoppeln - sich als semiprofessioneller Journalist produzieren zu können.

Apologeten des Fortschritts haben das als Gewinn an Rückkopplung und informationeller Selbstbestimmung, ja als technologische Durchsetzung eines herrschaftsfreien Diskurses begrüßt: Es gibt keine elitären Türwächter von Nachrichten mehr, keine Kuratoren, die darüber befinden können, was relevant ist und was nicht. Zu den Kehrseiten der Entwicklung allerdings gehört die Zerstörung eines geteilten öffentlichen Raumes, in dem Argumente geprüft und gewogen werden, Meinungen sich bewähren und gegen Widerspruch durchsetzen müssen.

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