Wann gab es zuletzt einen solchen Beifall im Willy-Brandt-Haus? Wann so viel gelöstes Gelächter im schiffsbauchhohen Foyer der Berliner SPD-Zentrale? Es fällt einem in den vergangenen Jahren eigentlich kein Ereignis ein, das derart viel Leben in dieses Haus gebracht hätte.
Bezeichnend nur, dass es nicht Parteichef Sigmar Gabriel ist, der diesen Sturm der Freude auslöst. Sondern Susanne Neumann: eine Putzfrau, Betriebsrätin und seit einer Woche SPD-Mitglied.
Dabei fängt alles sehr schön an mit den beiden. Gabriel begrüßt Neumann als besonderen Gast in seiner Rede. Kurz darauf sitzen sie gemeinsam auf dem Podium, weil die SPD zu einer großen Gerechtigkeits-Konferenz geladen hat, die den Auftakt zur Arbeit am Wahlprogramm bilden soll.
Die SPD-Führung
Seit 2009 Parteichef, macht die SPD in regelmäßigen Abständen mit Alleingängen nervös. War im Sommer in der Krise, bekam beim Ja zur Vorratsdatenspeicherung reichlich Gegenwind. Punktete in der Flüchtlingskrise aber wieder. Hat Anspruch auf Kanzlerkandidatur 2017 angemeldet. Bei seiner Rede gab er sich staatsmännisch und warb für einen Kurs der Mitte. Die Linke goutierte das nicht. Die herbe Quittung: Nur 74,3 Prozent nach 83,6 Prozent vor zwei Jahren.
Landesmutter in Nordrhein-Westfalen, lange als Gabriel-Konkurrentin gehandelt, will von Bundespolitik aber nichts mehr wissen. Konzentriert sich voll auf die Landtagswahl 2017 an Rhein und Ruhr. In der Flüchtlingskrise wieder präsenter. Parteivize seit 2009, bei der letzten Parteitagswahl vor zwei Jahren 85,6 Prozent. Am Freitag fehlte sie wegen Fieber und Schüttelfrost. Geschadet hat es nicht: Sie kam auf 91,4 Prozent Zustimmung.
Seit 2011 SPD-Vize (Wahl 2013: 79,9 Prozent). Die Flüchtlingskrise wäre für die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung eigentlich die große Zeit, um Akzente zu setzen. Sie blieb bislang aber eher blass - auch als Parteivize. Geht mit ihrer zurückhaltenden Art im SPD-Gefüge etwas unter. Als einzige Migrantin unter den Vizes hat die Tochter türkischer Kaufleute in diesen Zeiten dennoch einen festen Platz. Der Lohn: 83,6 Prozent.
Landes- und Fraktionschef der hessischen SPD, wird oft unterschätzt, müht sich um bundespolitisches Profil. „TSG“ kümmert sich auch um die internationalen SPD-Kontakte. Der Mann mit den dicken Brillengläsern - in der Jugend drohte er zu erblinden - ist glühender Bayern-Fan, trat aus Protest gegen die Hoeneß-Steueraffäre aber beim Rekordmeister aus. Bekam 2013 als Vize 88,9 Prozent. Schaffte das Resultat diesmal fast: 88,0 Prozent.
Wird als kluger Verhandler in der SPD geschätzt, wie bei den Bund-Länder-Finanzen. Für den Fall, dass Gabriel irgendwann nicht mehr will oder darf, fällt stets auch sein Name. Hat bei den Delegierten aber oft einen eher schweren Stand. Vor zwei Jahren bekam er als Vize nur 67,3 Prozent. Das Nein seiner Hamburger zur Olympia-Bewerbung der Hansestadt war für Scholz ein Dämpfer. Der Parteitag leistete etwas Aufbauarbeit: 80,2 Prozent.
Seit 2009 Parteivize (Wahl 2013: 80,1 Prozent). Die Bundesfamilienministerin hat sich in der SPD einen guten Stand erarbeitet - gerade mit ihrem Thema Frauen und Familie. Früher intern mitunter belächelt, gilt sie heute als wichtige Figur im Parteiengefüge, mit Aussicht auf höhere Aufgaben. Mit SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann soll sie das Wahlprogramm für 2017 erarbeiten. Erwartet derzeit ihr zweites Kind. Die Delegierten bescherten ihr mit 92,2 Prozent das beste Ergebnis aller Vizes.
Allzweckwaffe vom linken Flügel, SPD-Erklärbär auf allen Kanälen. Träumt seit Jahren davon, Generalsekretär zu werden - darf aber nicht, weil es nach dem Fahimi-Rückzug wieder eine Frau sein sollte. Der Kieler Landeschef erhielt 2013 bei seiner Wahl zum Vize 78,3 Prozent. Auch er kann sein Niveau in etwa halten: 77,3 Prozent.
Von Gabriel als Generalsekretärin ausgeguckt. Bislang in der Bundespolitik kaum in Erscheinung getreten. Sitzt seit 2013 im Bundestag, muss nun den nächsten Wahlkampf vorbereiten. Machte vor der Politik Karriere als Juristin. Kein Wadenbeißer-Typ, eher ruhig, zurückhaltend. Muss sich in der SPD erst noch einen Namen machen. Der Parteitag gibt ihr mit 93 Prozent eine großen Vertrauensvorschuss. Fast 20 Punkte mehr als ihr künftiger Chef Gabriel.
Neumann macht dort etwas, das man in Berlin ziemlich selten hört: Sie spricht einfach die Sprache der Basis. „Wenn die SPD wech ist, dann haben wir ja nichts mehr“, ist so ein Satz. Erster, kräftiger Applaus. „Das is‘ doch mal ein nachvollziehbares Argument“, lacht Gabriel hinterher.
„Warum bleibt ihr bei den Schwatten?“
So heiter bleibt es aber nicht, zumindest nicht für ihn. Als Neumann über befristete Jobs klagt, argumentiert der SPD-Chef, mit der Union, „den Schwatten“, sei hier keine Reform möglich. „Warum bleibt ihr denn dann bei den Schwatten?“, kontert sie.
Gejohle im Brandt-Haus, zweiter Riesen-Beifall. Gabriel versucht eine Antwort: Jetzt die Koalition platzen zu lassen, würde bedeuten, geplante Reformen wie die zur Zeitarbeit nicht mehr umsetzen zu können. „Das hieße, alles so beschissen zu lassen wie es ist.“ Was sie dazu sage?
„Es ist ein Alarm-Signal“
Neumann kontert: „Wenn schon eine Reinigungskraft wie ich dir raten soll, was ihr hier tun müsst...“ Wieder tobt das Foyer. „Das ist nicht fair“, ruft Gabriel betont witzig hinterher. „Tja“, retourniert sie trocken, „Du hast mich eingeladen.“
Das Duo Neumann/Gabriel auf der SPD-Bühne wird so zum ungeplanten, aber umso treffenderen Sinnbild für den Zustand der Sozialdemokratie. Die Regierungsarbeit ist in den eigenen Augen makellos, die Umfragewerte dennoch so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Stimmung in der Partei pendelt deshalb irgendwo zwischen deprimiert und zynisch.
Sigmar Gabriel sieht Schulen als "Kathedralen des 21. Jahrhunderts"
Und der Parteivorsitzende? Muss andauernd Rücktrittsgerüchte austreten, wird auf dem Parteitag abgestraft, gilt sogar als gescheiterter Kanzlerkandidat, bevor er überhaupt als solcher angetreten ist.
Man bekommt schon fast Mitleid mit der SPD. Und mit Gabriel.
In der vergangenen Woche hatte ihn eine Gürtelrose außer Gefecht gesetzt. Eine wichtige Iran-Reise als Wirtschaftsminister musste er absagen und einige andere Termine noch dazu. Das im Verbund mit neuen, fürchterlichen Wahl-Umfragen reichte schon, um eine neue mediale "Tritt-Gabriel-Zurück"-Welle durch das Land zu schicken. Die wievielte?
An diesem Montag in Berlin, bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Zwangspause, geht Gabriel mit keiner Silbe auf den Irrsinn der jüngsten Tage ein. Stattdessen weitet er seine auf 20 Minuten angesetzte Begrüßung zum Gerechtigkeitskongress auf über 40 Minuten aus und liefert dabei eine Art sozialdemokratische Grundsatzrede. Ganz ohne lautes Parteitags-Pathos, dafür mit ernster Leidenschaft, skizziert Gabriel die Grundzüge eines künftigen Wahlprogramms, ohne es so zu nennen. Und auch dies sagt er nicht, obwohl er es ausstrahlt: Dass er der Kandidat für dieses Programm sein wird.
SPD verliert das große Ganze aus den Augen
Dabei fällt kaum ein Wort so häufig wie dieses: Freiheit. Die SPD sei immer schon „Teil der großen Freiheits- und Gerechtigkeitsbewegungen“ gewesen, sagt Gabriel. Immer sei es die Idee der Sozialdemokratie gewesen, „Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben zu ermöglichen“. Der SPD-Chef bekräftigt auch noch einmal seinen Anspruch, dem „Kampf um die Mitte neu aufzunehmen“ und die „Interessen der arbeitenden Mitte im Blick zu behalten“.
Gabriel, der vermeintlich schon Abgetretene, schlägt unüberhörbar Pflöcke für das künftige Wahlprogramm ein: eine Bürgerkrankenversicherung für alle, ein Aus für die Abgeltungssteuer bei Kapitalerträge, Milliarden-Investitionen in Schulen („Wir sollten sie zu Kathedralen des 21. Jahrhunderts machen“), Rentenpolitik. „Zuerst muss es um Bildung, Arbeit, Wirtschaft gehen.“
Vor allem aber geht es in seiner Rede viel um die Partei selbst. Mindestlohn, Rente mit 63, Frauenquote und Mietpreisbremse seien zwar, witzelt Gabriel, die „schöne Bilanz einer rot-grünen Regierung“. Aber angesichts vieler kleiner Schritte drohe der SPD das große Ganze aus den Augen zu geraten. Die Sozialdemokratie wirke gerade nicht wie eine dynamische reformerische Kraft, sondern eher wie „eine ermüdete Partei im Hamsterrad“. Ohne Zuversicht, ohne Vision, ohne Ausstrahlung.
Dann hat Susanne Neumann, die Putzfrau, ihren Auftritt und zeigt: All das gilt auch für Gabriel selbst. Eine Rede allein ändert daran wenig.