Halten Sie auch ihre Kritik an den Euro-Rettungsschirmen aufrecht oder urteilen Sie rückblickend milder?
Für Milde gibt es keinen Anlass. Hier werden Marktprozesse ausgeschaltet, weil die Politik Schulden durch gemeinsame Rettungsschirme sozialisiert. Das drückt künstlich die Risikoprämien der Anleihen von Schuldenstaaten nach unten – und die Länder können sich auch weiterhin munter verschulden. Der von Angela Merkel gefeierte Fiskalpakt ist ein Rohrkrepierer. Der Hang zur Verschuldung lässt sich durch politische Vereinbarungen nicht bremsen. Der Bremsversuch macht Deutschland nur zum Bösewicht, der angeblich anderen eine Austeritätspolitik vorschreibt und sie in die Arbeitslosigkeit treibt. Ohne die gemeinsame Haftung müsste jeder selbst versuchen, den Gläubigern mehr Geld zu entlocken, etwa indem er sein Tafelsilber als Sicherheit bietet. Dann käme er von ganz allein zur Vernunft.
Was heißt das für die EZB? Kann sie die Zinsen je wieder erhöhen oder ist der politische Druck zu stark?
Formal besitzt die EZB die nötige Unabhängigkeit. In der Praxis wird das schwer werden. Wie weit kann sich ein nationaler Notenbanker von den Verhältnissen in seinem Heimatland frei machen? Einige Politiker und Notenbanker aus den überschuldeten Ländern würden die Zinsen am liebsten sogar in den negativen Bereich drücken, um die Gläubiger zur Kasse bitten zu können. Zum Glück schützt uns die Existenz des Bargeldes davor.
Ist die EZB-Strategie richtig, die Inflationsrate zu erhöhen?
Da der Süden zu teuer geworden ist, muss er nun bei der Inflation hinter Deutschland zurückbleiben, und das geht am einfachsten, wenn die durchschnittliche Inflation steigt. Deutschland muss also quasi versuchen, das Preisniveau der vorausgelaufenen Südländer wieder einzuholen, damit diese Länder wieder wettbewerbsfähig werden. Das ist die ökonomische Rationalität, die ich hinter dem QE-Programm der EZB vermute. Man kann sich ihr nicht ganz verschließen.
Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter
Die EU gilt vielen als Verwaltungsmoloch. Mit rund 33.000 Mitarbeitern beschäftigt die EU-Kommission in etwa so viele Menschen wie die Stadtverwaltung München.
Seit der Einführung direkter Europawahlen 1979 hat das EU-Parlament deutlich mehr Einfluss gewonnen. Die Abgeordneten bestimmen über die meisten Gesetze mit, haben das letzte Wort beim Haushalt und wählen den Kommissionspräsidenten.
Deutschland leistet den größten Beitrag zum EU-Haushalt. 2012 zahlte Berlin netto 11,9 Milliarden Euro. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind Dänemark oder Schweden aber noch stärker belastet.
Zehn Jahre nach der Osterweiterung erweist sich die Angst vor dem „Klempner aus Polen“ als unbegründet. Stattdessen wächst die Wirtschaft in den neuen Mitgliedstaaten.
Neue Sanktionen gegen Russland beweisen: Die EU spielt eine Rolle in der Ukraine-Krise - ebenso wie bei anderen Krisenherden in aller Welt. Den EU-Staaten fällt es dennoch oft schwer, in der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen.
Bereits seit 2009 abgeschafft, lastet die „Verordnung (EWG) Nr. 1677/88“ noch wie ein Fluch auf Brüssel. Die Vorschrift setzte Handelsklassen für das grüne Gemüse fest und gilt als Paradebeispiel für die Regulierungswut von Bürokraten.
In diesem Jahr verfügt die EU insgesamt über mehr als 130 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, entspricht aber nur rund einem Prozent der Wirtschaftsleistung der Staaten.
Die Landwirtschaft macht einen sehr großen, aber kleiner werdenden Teil des EU-Haushalts aus. Der Agrar-Anteil am Budget ist in den vergangenen 30 Jahren von 70 auf 40 Prozent geschrumpft.
Die EU-Abgeordneten erhalten monatlich zu versteuernde Dienstbezüge von 8020,53 Euro. Hinzu kommen stattliche Vergütungen etwa für Büros, Mitarbeiter und Reisen. Ein Bundestagsabgeordneter erhält 8252 Euro, ebenfalls plus Zulagen.
Und die deutschen Sparer werden enteignet.
So ist es. Da die Schuldner in Südeuropa ihre Verbindlichkeiten so oder so nicht zurückzahlen werden, sehen viele diese heimliche Enteignung durch Inflation als den sozialverträglichsten Weg, den Euro, Südeuropa und Frankreich zu retten.
Wenn Sie ihre wissenschaftliche Arbeit Revue passierter lassen: Wo haben Sie sich als Ökonom geirrt?
Beim Euro. Am Anfang war ich ein klarer Befürworter. Zum Glück habe ich das nicht publiziert.
Gegner werfen ihnen weit mehr Fehleinschätzungen vor. Das Handelsblatt etwa bezeichnete Sie als „falschen Propheten“ und führte einige bekannte Ökonomen als Kritiker gegen Sie ins Feld...
...aber die Aufmachung war schärfer als der Inhalt. Manches Argument der Kollegen war keine Fundamentalkritik, sondern eine Auseinandersetzung mit Details, wie sie in unserer Wissenschaft nicht unüblich ist. Manches richtete sich gegen ein Zerrbild, dass man sich selbst gemalt hatte. Ein Kollege hat sich bei mir entschuldigt. Ich fand es bemerkenswert, dass das Handelsblatt fast den gleichen Titel vorher zu Keynes gemacht hat. Während das Blatt mir fünf Irrtümer attestierte, hatte es ihm sogar sieben vorgeworfen. Keynes war halt produktiver.
Haben Sie je Druck aus der Politik verspürt?
Eigentlich nicht.
Gerlinde Sinn: Na, es gab zumindest einen Fall. Da wurde uns zugetragen, dass Hans-Werners Aussagen in politischen Kreisen auf wenig Wohlgefallen gestoßen seien – und er mit negativen Konsequenzen für seine Karriere rechnen müsse.
Hans-Werner Sinn: Okay, das war’s dann aber auch. Das war lange vor der ifo-Zeit, als es um die Wiedervereinigung ging.
Die meisten Ökonomen werden vom Staat finanziert, auch die großen Forschungsinstitute. Hat man da eine Schere im Kopf, um nicht anzuecken?
Man muss schon überlegen, was man sagt, denn man hat eine Verantwortung. Aber ich schneide nicht viel weg, schon gar nicht, um Politikern zu gefallen. Wenn ich mich äußere, dann bin ich mir meiner Sache sicher. Das ifo Institut ist wirtschaftlich und wissenschaftlich stark und wird durch die Leibniz-Gemeinschaft geschützt. Uns kann so leicht keiner was ans Zeug flicken.