Seit Montag ist Kathy Niakan weltberühmt. Und versteckt sich doch. Als die britische Human Fertilisation and Embryology Authority der Stammzellforscherin erlaubte, menschliche Embryonen genetisch zu manipulieren, schickte sie einen Kollegen zur Einordnung der Entscheidung vor. Die Forscherin vom Londoner Francis Crick Institute selbst arbeitete an diesem Tag seelenruhig an zwei wissenschaftlichen Aufsätzen weiter und war abends in den TV-Nachrichten nur anonym im Hintergrund zu sehen: eine Frau im weißen Kittel mit dichtem schwarzem Lockenschopf, die sich über ein Mikroskop beugte.
Dabei wird Niakan als erste Europäerin in die menschliche Keimbahn eingreifen – ins Erbgut eines Ungeborenen, das er an all seine Nachkommen weitergibt. Wenn auch nur zu Forschungszwecken. Sie wird dabei mit der spannendsten Technik am Biotechfirmament arbeiten: einer Genschere namens Crispr-Cas9. Damit lässt sich das Erbgut so einfach wie nie kürzen, längen und umschreiben. Auch wenn die Forscherin das weder vorhat noch es ihr erlaubt wäre: Die Technik ermöglicht gentechnisch optimierte Babys und, zu Ende gedacht, das Neudesign des Lebens.
Die Entwicklung der Gentherapie
Es ist der erste offiziell genehmigte Gentherapieversuch: French Anderson behandelt am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA die vierjährige Ashanti DeSilva. Sie leidet an einem angeborenen Immundefekt (SCID) und muss in einem Isolierzelt leben, um sich vor Erregern zu schützen. Die von Viren in Ashantis Zellen transportierten Gene helfen. Zugleich bricht eine Debatte los, ob Genreparaturen an Embryonen verboten werden sollen.
In Europa behandelt Claudio Bordignon am Mailänder San Raffaele Telethon Institute for Gene Therapy SCID-Kinder erfolgreich per Gentherapie. Der Erwartungsdruck wächst.
Der 18-jährige Jesse Gelsinger stirbt bei einem Gentherapieversuch am Humangenetischen Institut der University of Pennsylvania. Er litt an einer milden Form einer erblichen Stoffwechselkrankheit und hatte sich als Freiwilliger gemeldet. Das Immunsystems seines Körper reagierte so heftig auf die Genfähre, dass er an Multiorganversagen starb. Im Nachhinein wurde klar, dass die Reaktion absehbar gewesen war, Studienleiter James Wilson ihn aber trotzdem behandelte. Der verlor seinen Job als Institutsdirektor, die Universität bezahlte 500.000 Dollar Strafe.
Alain Fischer und Kollegen behandeln am Necker Hospital in Paris SCID-Kinder. Der Immundefekt ist damit behoben, aber bei einigen der jungen Patienten aktiviert die Genfähre ein Krebsgen, sie erkranken an Leukämie. Ein Kind stirbt daran. Die Ärzte können die anderen Betroffenen retten, diese sind auf Dauer von ihrem Immundefekt geheilt.
China lässt die Therapie der Sibiono GeneTech, Shenzhen, zu. Sie bringt das Wächtergen p53 in Krebszellen, was diese in den Selbstmord treibt.
Die texanische Biotech-Firma Introgen zieht ihren Antrag für eine p53-Therapie bei der europäischen Zulassungsbehörde (EMA) zurück, weil ihr die Insolvenz droht. Der britische Anbieter Ark Therapeutics zieht den Antrag für eine andere Krebstherapie zurück. Die EMA war nicht zu überzeugen, dass die Vorteile der Behandlung deren Risiken überwiegen.
Die EMA lässt mit Glybera die Gentherapie der niederländischen Uniqure gegen eine seltene Stoffwechselkrankheit zu.
Glybera kommt in Deutschland auf den Markt. Preis: eine Million Euro.
Der Aufschrei der Empörung gegen die Erlaubnis ist groß. Kirchen, Politiker, selbst Stammzellforscher wie Hans Schöler, Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin in Münster, warnen: „Diese Forschung öffnet eine Tür.“ Dass solche Eingriffe nicht durchgeführt würden, sei internationaler Konsens gewesen. Doch die britische Behörde will Großbritannien als Vorreiter bei der Crispr-Technik positionieren. Denn es ist längst weltweit ein Wettstreit darüber entbrannt, wer die Rechte an dieser gerade erst dreieinhalb Jahre alten Technologie ergattert: um mit ihr lukrative neue Therapien gegen Krebs oder die Bluterkrankheit zu entwickeln oder um Pflanzen und Nutztiere zu verändern, sodass sie höhere Erträge bringen. Mit ersten derartigen Produkten rechnen Brancheninsider bereits in drei bis fünf Jahren. Acht Jahre wird es dauern, schätzen Optimisten, bis Menschen mit Crispr-Hilfe ihre Herz-Kreislauf-Probleme in den Griff bekommen.
Ein Forscher-Trio hält die Fäden in der Hand
Viele dieser Ziele verfolgen Gen-Ingenieure schon seit Jahrzehnten. Doch mit Crispr geht alles schneller und einfacher. Deshalb verbünden sich große Life-Science-Konzerne wie Bayer, Novartis, AstraZeneca oder Dupont gerade mit Start-ups, die Zugriff auf die Patente für die Technik haben. Zwei dieser Shootingstars drängen dieses Jahr an die Börse. Konzerne und Investoren pumpen Milliardensummen in die neue Technik.
„Wenn alles funktioniert, könnten wir Krankheiten behandeln oder sogar heilen, die wir bisher mit konventionellen Medikamenten nur mühsam in Schach halten“, verkündet Bayer-Innovations-Vorstand Kemal Malik. Was eine völlig neue Qualität in der Pharmaentwicklung wäre. Malik räumt aber auch ein, die Gefahr zu scheitern sei in diesem frühen Stadium noch sehr groß.
Mensch 2.0 - Welche Techniken und Implantate uns besser leben lassen
Ein Mikrochip im Innenohr (38.000 Euro) lässt Taube wieder hören.
Hirnschrittmacher (ab 31.000 Euro) senden elektrische Impulse ins Gehirn, um epileptische Anfälle, das Zittern von Parkinson-Kranken und Depressionen zu heilen.
Ein Chip erfasst Nervenreize. Denkt ein Proband "Greifen", kann er eine Prothese fernsteuern.
Werden kleine Magnete unter die Haut der Fingerkuppen implantiert (200 Euro), können Menschen elektromagnetische Felder wahrnehmen.
Mit einer vollelektronischen Orthese (60.000 Euro) können Menschen gelähmte Gliedmaßen wieder benutzen.
Mikroelektronik in modernen Prothesen (30.000 bis 40.000 Euro) kontrolliert und steuert innerhalb von Millisekunden die Position des Kunstbeins beim Gehen, Rennen oder Treppensteigen.
Mit superleichten Karbonfedern (8.000 Euro) spurten Sportler besser als mit normalen Fußprothesen.
Implantate nahe dem Rückenmark (etwa 20.000 Euro) stoppen die elektrischen Nervensignale - und damit das Schmerzempfinden.
Elektronische Schrittmacher kontrollieren die Funktion von Magen, Blase und Darm (ab 14.400 Euro).
Der Brustmuskel wird in mehrere Segmente unterteilt, mit denen Arm und Kunsthand präzise gesteuert werden (60.000 Euro).
Schrittmacher (ab 5.100 Euro) und implantierbare Defibrillatoren (ab 15.500 Euro) halten geschädigte Herzen mit elektrischen Impulsen auf Trab.
Exakt geschliffene Kunststofflinsen (je 3.000 Euro) heilen den grauen Star. So erreichen viele Patienten anschließend 180 Prozent Sehschärfe.
Blinde können mit einem Computerchip (73.000 Euro ohne Operation), der in die Netzhaut implantiert wird, wieder sehen. Eine Kamerabrille überträgt Bilder zum Chip, der das Signal an den Sehnerv weiterleitet. Der Akku am Gürtel liefert den Strom.
Die Schar der entscheidenden Köpfe, die Patente an der neuen Technik angemeldet haben, ist übersichtlich: Es sind die Französin Emmanuelle Charpentier und die US-Amerikanerin Jennifer Doudna, die gemeinsam im August 2012 den weltweit ersten Fachartikel veröffentlichten, wie sich der aus Bakterien stammende Molekülkomplex Crispr-Cas9 als Werkzeug nutzen ließe. Mit dieser Genschere zerschneiden Bakterien das Erbgut von Viren, von denen sie angegriffen werden. Mit ihrer Idee traten die mittlerweile in Berlin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie forschende Charpentier und die Biochemikerin Doudna von der University of California in Berkeley eine Lawine von Forschungsarbeiten los. Der dritte im Bunde ist Feng Zhang vom Broad Institute im amerikanischen Cambridge.
Vermarktung über vier Start-ups
Das Trio liegt allerdings im Streit und debattiert seit Wochen erbittert, wer die älteren Rechte an einer der wichtigsten Biotechinnovationen des Jahrhunderts besitzt. Das hindert die Forscher aber nicht, die Technik über vier Start-ups zu vermarkten: Doudna via Caribou und Intellia, Charpentier mit Crispr Therapeutics und Zhang durch Editas.
Charpentier & Church - Die Eltern der Designerbabys
Institut: Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig, Med. Hochschule Hannover
Forschung :Die Mikrobiologin untersuchte die Abwehrkräfte von Bakterien, fand dabei Crispr-Cas9
Institut: Harvard Medical School, Harvard University, Massachusetts Institute of Technology (MIT)
Forschung: Initiierte das Humangenomprojekt, versteht sich als Visionär des neuen Biozeitalters
Um die vier Firmen buhlen nun Pharma- und Chemiekonzerne, aber auch Biotechunternehmen, die alle mitverdienen wollen. Seit 16 Monaten tobt der Verteilungskampf nun schon. Dabei agieren die Firmen mit sehr unterschiedlichen Strategien.
Caribou: Hunger bekämpfen
Doudnas Gründung Caribou Biosciences im kalifornischen Berkeley spielt die Rolle des Landeis und konzentriert sich auf die Agrarbranche. Caribou will nicht weniger als die Welternährung sichern. Denn mit Crispr lassen sich Pflanzen wie auch Nutztiere gentechnisch optimieren. Dank Crispr sollen Mais und Weizen Dürren überstehen und zugleich höhere Erträge abwerfen.
Das lockt den US-Chemie- und Agrarriesen Dupont, der im Oktober 2015 von Caribou-Chefin Rachel Haurwitz die Nutzungsrechte für die Pflanzenzucht erhielt. Was der Konzern für die mehrjährige Kooperation bezahlt, verraten die Partner nicht. Schon im Frühling sollen Feldversuche beginnen.
Diese Start-ups arbeiten an Crispr-Cas9
Vier junge Unternehmen arbeiten bereits daran, Anwendungen der neuen Technologie zu vermarkten. Emmanuelle Charpentier veröffentlichte die erste Arbeit über das Genwerkzeug Crispr-Cas9 im März 2011. Der französischen Mikrobiologin war klar: „Das hat Folgen für fast jedes Feld der biologischen Forschung, auch auf die Entwicklung neuer Therapien.“
Welche vielversprechenden Start-ups Patente besitzen oder angemeldet haben.
Start: 2011 in Berkeley, USA
Strategie: Technikentwickler, setzt auf Tiermedizin sowie auf industrielle und grüne Gentechnik
Gründerin: Jennifer Doudna, Biologin, hat mit Charpentier wichtige Arbeiten zu Crispr-Cas9 veröffentlicht
Finanzierung: elf Millionen Dollar
Start: Ende 2013 in Cambridge, USA
Strategie: Therapien für genetisch bedingte Erkrankungen
Gründer: Harvard-Genforscher George Church, Jennifer Doudna, Crispr-Forscher Feng Zhang vom Broad Institute in Cambridge
Finanzierung: 43 Millionen Dollar
Start: April 2014 in Basel, Schweiz
Strategie: Therapien für genetisch bedingte Erkrankungen
Gründer: Emmanuelle Charpentier; Craig Mello, Nobelpreisträger aus den USA; Rodger Novak, Ex-Manager des Pharmakonzerns Sanofi
Finanzierung: 25 Millionen Dollar
Start: Ende 2014, Cambridge, USA (Ausgründung aus Caribou)
Strategie: Genetische Erkrankungen, Krebs-Gentherapie zusammen mit Pharmakonzern Novartis
Gründer: Caribou-Chefin Rachel Haurwitz, Crispr-Forscher Rodolphe Barrangou
Finanzierung: 15 Millionen Dollar
Besonders spannend: Das US-Landwirtschaftsministerium signalisierte, dass Pflanzen nicht als gentechnisch verändert gekennzeichnet werden müssten, solange keine Gene fremder Lebewesen wie Bakterien eingebaut seien. Ob das auch für Europa gilt, will die EU-Kommission bald entscheiden. Es wäre für die Branche ein Durchbruch: Schließlich ist konventionelle gentechnisch veränderte Nahrung, die entsprechend gekennzeichnet werden muss, hoch umstritten, vor allem unter Europas Verbrauchern. Ohne die Kennzeichnung wittern die Agrarkonzerne neue Marktchancen.
Intellia: Krebsabwehr stärken
Für die Anwendung beim Menschen hat Caribou in Cambridge Intellia Therapeutics ausgegründet. Das Start-up hat sich bereits im November 2014 mit dem Pharmakonzern Novartis verbündet – ohne Zahlen zu nennen. Die Schweizer haben sich damit als weltweit erster Konzern den Zugriff auf die neue Genschere gesichert. Novartis will Immunzellen außerhalb des Körpers mit der Crispr-Technik gegen Tumore aufrüsten und dann wieder in die Kranken zurückzugeben. Der Ansatz hat gute Chancen, zur ersten Crispr-Therapie zu werden. Denn er lässt eine Erfolgskontrolle zu: Nur Zellen, bei denen das Gentuning ohne Störung funktioniert hat, kommen zum Einsatz.
Editas: Erblinden stoppen
Vornehme Verschwiegenheit wie bei Intellia ist dem Start-up Editas Medicine fremd, das Feng Zhangs mitgegründet hat. Die ebenfalls in der Biotechhochburg Cambridge angesiedelte Firma gibt sich eher als Retter der Menschheit. Mammuts wieder auferstehen lassen, Menschen optimieren, sämtliche Krankheiten heilen, weniger wäre nicht gut genug für Editas. Im Mai 2015 hat sich die Firma mit Juno Therapeutics aus Seattle zusammengetan, um in einem 25 Millionen Dollar schweren Forschungsprogramm – wie Intellia – externe Krebstherapien zu entwickeln. Und im August 2015 erhielt das Start-up unter anderem von Microsoft-Gründer Bill Gates 120 Millionen Dollar, um Gentherapien zu entwickeln, etwa gegen ein erbliches Augenleiden. Der Vorteil der Strategie: Die Geneditierung muss nicht gleich perfekt im ganzen Körper funktionieren, sondern nur in einem einzigen Organ, das noch dazu gut von außen zu erreichen ist. Im Frühjahr 2017 sollen Versuche am Menschen beginnen, sagt Editas-Chefin Katrine Bosley, die im Januar auch den baldigen Börsengang ankündigte.
Crispr Therapeutics: Bluter heilen
Bescheidener gibt sich Charpentiers Gründung Crispr Therapeutics, die in Basel residiert und in Cambridge forscht. Sie hat dennoch das meiste Geld eingesammelt. So fädelte Chef Rodger Novak im November 2015 den mit 2,6 Milliarden Dollar größten Biotechdeal des Jahres ein – mit Vertex Pharmaceuticals aus Boston. Vertex ist auf Erbleiden wie Mukoviszidose spezialisiert, das die Lunge zerstört. Gegen diese und fünf weitere Krankheiten will das Duo kämpfen.
Mit Bayer gründete das ebenfalls an die Börse strebende Start-up in Cambridge ein Joint Venture, das Therapien sogar für Herzleiden finden soll. Was Novak gut gefällt: „Wir geben keine Rechte ab, sondern entwickeln und vermarkten gemeinsam Therapien.“ Mit einem Mal kann sein Team auf die Expertise eines Pharmakonzerns zugreifen.
In zwei bis drei Jahren hofft Axel Bouchon, derzeit Chef des Joint Ventures und Leiter des Bayer LifeScience Centers, Bluterkranken per Gentherapie helfen zu können. Bei vielen ist eine Erbanlage defekt, die den Bauplan für einen lebenswichtigen Blutgerinnungsfaktor liefert. Die Genschere soll den Defekt in jeder einzelnen Zelle des Patienten reparieren. Wenn das wirklich funktioniert, gebe es praktisch keine durch Gene verursachten Krankheiten mehr, meint Bouchon, die sich nicht heilen ließen.
Und wann geht Bayer dazu über, die Gendefekte schon in der Keimbahn, am ungeborenen Embryo zu korrigieren? „Niemals“, lautet die einhellige Antwort von Bouchon und seinem Forschungsvorstand Malik: „Dafür gibt es weder heute noch in Zukunft irgendeine medizinische Notwendigkeit.“