Die Stimmung auf der Schwerpunktstation Depression im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee ist ruhig und freundlich an diesem Nikolaustag 2016. Man sieht wenig Weihnachtsdeko. Die Weihnachtszeit ist eine sehr sensible Zeit. Eigentlich wollen die Patientinnen und Patienten nach Hause, aber nicht alle schaffen das.
Denn Depression ist eine schwere Erkrankung, die auch das Umfeld, die Familie schwer belasten kann. Johanna (50) sitzt etwas zusammengekauert auf einem Stuhl: „Ich habe den roten Faden in meinem Leben verloren“, sagt sie. Sie habe sich zu sehr in ihre Arbeit gestürzt, sich zu viele Aufgaben aufgebürdet, wollte immer alles alleine machen. Irgendwann habe sie das alles nicht mehr geschafft.
Zuletzt habe sie sich von ihren Freunden und Bekannten zurückgezogen, wollte sie nicht mehr sehen. „Alles, was mir wichtig war, erstrebenswert, ist wie ein Luftballon geplatzt“, sagt Johanna. Für ihre Umwelt sei dies alles schwer zu begreifen: „Was ist mit meiner Tochter, die nicht versteht, dass sich ihre Mutter das Leben nehmen will? Das fehlende Verständnis blockt mich, da hin zu gehen ... Aber woher soll es mein Mann wissen?“
Depression: Volkskrankheit mit Versorgungsdefiziten
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Bis 2020 werden sie laut Weltgesundheitsorganisation weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein, vor Diabetes mellitus (Zuckererkrankung) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dabei gibt es immer noch erhebliche Versorgungsdefizite, so das Robert Koch Institut (RKI).
Je nach Statistik haben schätzungsweise vier bis fünf Millionen Menschen in Deutschland eine Depression. Nach Zahlen des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gab es 2015 insgesamt 1,12 Millionen stationäre Fälle von GKV-Patienten, die die Diagnose Depression hatten. Der weitaus größte Teil davon wurde jedoch wegen anderer Erkrankungen stationär behandelt. Depression war also häufig „nur“ Nebendiagnose. GKV-Patienten mit Hauptdiagnose Depression gab es insgesamt bei rund 316 500 stationären Fällen. Genaue Zahlen über ambulante Fälle gibt es nicht.
Betroffene leiden unter einer gedrückten Stimmung, Traurigkeit oder inneren Leere, Antriebs-, Freud- und Interessenlosigkeit. Weitere Symptome können Konzentrationsmangel, schwindendes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sein. Dann auch Müdigkeit, Schlafstörungen sowie Appetitlosigkeit und entsprechend Gewichts- sowie Libidoverlust. Auch Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit kommen vor. Wenn eine bestimmte Anzahl dieser Grund- und Zusatzsymptome über 14 Tage anhält, spricht man je nach Anzahl und Schwere von einer leichten, mittelschweren oder schweren depressiven Episode. Bei schweren Depressionen kann es zu lebensmüden Gedanken kommen, die das Risiko einer Selbsttötung steigen lassen.
Depressionen haben auch körperliche Grundlagen, denn im Gehirn findet da etwas statt oder besser nicht statt. Bisher geht man davon aus, dass in bestimmten Regionen des Gehirns die Botenstoffe zwischen den Nervenzellen reduziert sind, so dass nicht ausreichend oder falsche Signale übertragen werden. Einer dieser Botenstoffe ist Serotonin. Hier setzen auch die Medikamente an. Sie sollen die Konzentration dieser Botenstoffe an den sogenannten synaptischen Spalten erhöhen.
Grundsätzlich ja. Heute gehe man von einem bio-psycho-sozialen Erklärungsmodell für Depressionen aus, erläutert die Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses in Berlin-Weißensee, Iris Hauth. Bio meint dabei auch, dass man eine angeborene Empfänglichkeit haben kann. „Es gibt mehrere Gene, die mittlerweile in unserer Erbausstattung identifiziert worden sind, die eine mögliche Anfälligkeit für Depressionen mit sich bringen.“ Doch Depressionen müssten nicht zum Ausbruch kommen. „Da müssen psychische und soziale Faktoren hinzukommen.“ Etwa schlimmer akuter Stress nach einem Autounfall oder längerer Stress, etwa durch Arbeitslosigkeit.
Wird eine depressive Erkrankung frühzeitig erkannt, ist sie in den meisten Fällen gut behandelbar. Zwei Drittel der Episoden klingen laut Hauth gut ab, auch wenn eine erhöhte Sensibilität bleiben kann. 20 Prozent werden chronisch. In der Regel gilt: Leichte Depressionen werden mit psychotherapeutischen Maßnahmen behandelt, mittelschwere mit psychotherapeutischen und - wenn der Patient es will - mit Medikamenten. Bei schweren Depressionen kommt auf jeden Fall beides zum Einsatz.
Ja, können sie haben. Um die Kriterien für eine Depression zu erfüllen, muss man sich ausdrücken und Gefühle äußern können. Ein Kleinkind, das keine Fürsorge bekommt, ist traurig und zeigt Zeichen einer frühkindlichen Depression. Aber eigentlich sieht man die klassischen Symptome einer Depression bei Kindern erst vom Schulalter an, erläutert der Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Neuruppin, Michael Kölch. Bei Kindern und Jugendlichen gebe es einen hohen Anteil reaktiver Depressionen, etwa, wenn sich die Eltern trennen, wenn die Eltern umziehen oder wenn der geliebte Opa stirbt. Mobbing in der Schule ist ebenfalls ein Risikofaktor. Die kindliche Symptomatik sei nicht nur traurige und niedergeschlagene Stimmung, sondern drücke sich oft auch in einem gereizten Stimmungswechsel aus.
Im Alter setzen sich Menschen mit ihrem Leben auseinander. Traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit können hoch kommen. Verlusterlebnisse beim Tod des Partners oder der Partnerin können Auslöser sein. Zugleich muss man sich immer mehr mit körperlichen Gebrechen und Krankheiten abplagen. Typisch für das Alter sind auch viele Medikamente. Das alles kann psychische Krankheiten nach sich ziehen.
Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz gibt zu bedenken, dass rund 1,2 Millionen der über 60-Jährigen in Deutschland an Depressionen leiden. Doch nur sechs Prozent davon würden behandelt. Depressionen seien Hauptursache für Suizide. In Deutschland geht man insgesamt von 100.000 Suizidversuchen im Jahr aus. Etwa 10.000 Menschen bringen sich tatsächlich um.
Ja. Statistisch haben etwa 10 bis 25 Prozent der Frauen im Leben depressive Phasen, während es bei den Männern 4 bis 10 Prozent sind. Oberarzt Stefan Rupprecht vom Alexianer St. Joseph-Krankenhaus sagt, zwar sei die Depressionsrate bei Männern niedriger als bei Frauen, dafür aber die Suizidrate höher. Männer geben aber ihre Depressionen oft nicht zu, sind eher gereizt beziehungsweise aggressiv oder sind in sich gekehrt.
Natürlich wird die Familie, werden die Angehörigen insofern mit einbezogen, als von ihnen mit abhängt, ob ein Patient zum Beispiel über Weihnachten nach Hause entlassen werden kann. Dringend verbessert werden muss aber die Betreuung und Beratung des Patienten-Umfelds, insbesondere der Familie. Diese sei schon in einem sehr frühen Stadium der Krankheit häufig verunsichert. „Das führt dann auch häufig zu falschen Maßnahmen: „Nun reiß' dich doch mal zusammen. Das geht schon wieder vorbei“, erläutert die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Iris Hauth. Das könne jemand noch weiter in die Depression treiben.
Man müsse erläutern, was eine Depression sei und wie man mit dem Patienten in der Familie umgehen sollte. Es gebe erste Schritte zu mehr Hilfe. Aber: „Die Arbeit mit Angehörigen ist in den Kliniken und auch im ambulanten Bereich noch deutlich zu verbessern“, sagt Hauth, die zugleich Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses ist. Angemessene Beratung der Angehörigen koste aber Zeit, die weder im ambulanten noch stationären Bereich ausreichend finanziert werde.
„Ich hab' ganz doll Schuldgefühle. Woher, weiß ich nicht.“ Petra (44) denkt unter anderem, sie habe Schuld am vermeintlichen Übergewicht ihrer Tochter, sie habe nicht auf gesunde Ernährung geachtet. „Das kann ich nicht mehr rückgängig machen“, sagt sie. Sie ist traurig, fast schon verzweifelt, obwohl die Tochter abgenommen habe. Eigentlich sei alles auf einem guten Weg. Aber: „Ich kann einfach nicht in die Zukunft gucken. Ich hänge in der Vergangenheit.“ Sie versuche, die Gedanken im Kopf zu stoppen und sich abzulenken. „Aber es passiert automatisch“, sagt sie und meint die kreisenden Gedanken im Kopf.