Gülen-Anhänger im Visier der Türkei "Erdogan hat eine Hexenjagd ausgelöst"

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Politische Erschütterungen in Berlin spürbar

Hizmet bilde „die neue entstehende deutsch-türkische Mittelschicht ab: Hier geboren, hier aufgewachsen, studiert. Kleines Unternehmen gegründet und erfolgreich integriert“, beschreibt Karakoyun den typischen Gülen-Anhänger. Statt Moscheen zu bauen, setze sich der 1941 in Erzurum geborene Iman und frühere Erdogan-Mitstreiter für Bildung ein.

Das Modell hat Gülen von der Türkei in alle Welt exportiert. Der Historiker Nikolaus Brauns sieht dahinter ein strategisches Interesse. Junge Muslime sollen sich moderne Wissenschaft aneignen, „um der Türkei in einer globalisierten Welt eine neue Rolle als islamische Vormacht zu ermöglichen“, schreibt Brauns, der auch wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag ist, in einem Beitrag für „Zeit Online“.

Vorwurf der Gehirnwäsche

Gülen, so Brauns, habe erkannt, dass der von Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) gegründete säkulare Staat ein zu mächtiger Gegner sei, um ihn frontal anzugreifen. „Stattdessen setzte er fortan auf die Unterwanderung des Staatsapparates - ein islamischer Marsch durch die Institutionen“.

„Unsinn“, nennt Karakoyun solche Mutmaßungen. „Wir fördern seit 40 Jahren Bildung. Das heißt, es gibt viele gut ausgebildete Menschen, die für den Staat tätig werden. Das ist keine Unterwanderung, das ist Normalität.“

Auch den Vorwurf der Gehirnwäsche junger Anhänger, etwa über die Nachhilfevereine, weist Karakoyun von sich. „Fethullah Gülen spricht in seinen Predigten und Werken zu den Menschen. Immer hat er die Rolle des Individuums und der Meinungsfreiheit unterstrichen. Hizmet ist eine Bewegung, in der jeder so denken darf, wie er will. Wir legen höchsten Wert auf Spiritualität und kritisches Denken.“ Und vor allem Frauen seien bei Hizmet aktiv und könnten immer mehr Führungspositionen übernehmen - „was bei Moscheevereinen ja nicht der Fall ist“.

Wie die Gülen-Leute bekommt auch Seyran Ates in Berlin die politischen Erschütterungen fernab zu spüren. „Ich werde auf Facebook als Hure, Schlampe und Gülen-Anhängerin beschimpft“, sagt die deutsch-türkische Menscherechtsanwältin und Islamkritikern.

"Es schwappt über"

Erdogan habe eine Hexenjagd ausgelöst. „Es schwappt nach Deutschland über.“ Sie werde vorläufig nicht mehr nach Istanbul reisen. Ihre kritischen Facebook-Posts seien inzwischen den türkischen Behörden gemeldet worden.

Erdogan müsse zuerst Beweise für eine Beteiligung des in den USA lebenden Imams am Putsch vorlegen, sagt Ates und stellt klar: „Ich bin keine Gülen-Anhängerin.“ Die Juristin sieht den Putsch vielmehr als Teil eines Machtkampfs zwischen Erdogan und seinem früheren Weggefährten.

Nicht gerade beruhigend dürfte dabei die jüngste Freitagspredigt der von Ankara gesteuerten „Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion“ (DITIB) mit Sitz in Köln klingen. Jene, die seit vierzig Jahren „Aufwiegelei, Aufruhr und Feindschaft“ säten, hätten dem Volk „sehr großen Schaden“ zugefügt und Verrat begangen. Die Gülen-Leute und die anderen Erdogan-Kritiker dürften die Botschaft verstanden haben.

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