Das deutsche Straßendilemma Wir fahren auf einem Haufen Schrott

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Störfaktor in durchorganisierter Landschaft

Erst als man auch noch eine Wohnsiedlung auf der Kippe platzierte und es danach zu einer Häufung unerklärlicher Krankheiten kam, begann das Umdenken. Die Siedlung und der dazugehörige Kindergarten wurden abgerissen, die Kippe mit einer zusätzlichen Schicht versiegelt. Da liegt der toxische Müll im Prinzip sicher, bloß: Für die Sanierung der Brücke muss man wieder an die Kippe ran. Denn eine Sperrung der Autobahn würde ein Loch in den gesamten Kölner Ring reißen, der für den Verkehrsfluss im Bundesland quasi unersetzlich ist. Deshalb wird zuerst eine neue Brücke neben die alte gesetzt, um dann den Verkehr auf die neue zu leiten und währenddessen das alte Bauwerk zu ersetzen. So wird die Brücke erneuert und gleichzeitig die Autobahn von sechs auf mindestens acht Spuren erweitert. Der Preis dafür aber ist, dass das toxische Erbe des Chemiegiganten schon wieder angebuddelt werden muss. Da der Inhalt aber so stark mit giftigen Substanzen durchsetzt ist, muss während der Bauarbeiten ein Gebäude um die Grube errichtet werden. Der Boden wird zuletzt als Sondermüll der übelsten Sorte für viel Geld entsorgt.

Der Brückenbau zu Leverkusen zeigt damit in extremer Weise, was die Erneuerung der Infrastruktur in Deutschland so kompliziert macht. Straßen und Brücken stehen inzwischen seit Jahrzehnten an ihrem Platz, der einst für geeignet befunden wurde. Doch in der Zwischenzeit ist das Leben um sie herum weitergegangen, immer mehr Menschen sind in die Städte gezogen, Dutzende Wissenschaftler haben sich Gedanken gemacht über die Folgen großen Lärms und Schmutzes für die Gesundheit der Menschen und der Natur. Es folgten die passenden Gesetze. Und so bildet die Infrastruktur, welche die Menschen einst als Signal für den Aufbruch in eine neue, mobile Zeit begriffen hatten, plötzlich den Störfaktor in einer durchorganisierten Landschaft, die jedem Stück Deutschland seinen Zweck zuweist, den es zu erfüllen hat. Wo Menschen wohnen, soll es leise sein, die Luft sauber und die Straßen verkehrsberuhigt. Wo heute noch Natur ist, da heißt sie „Fauna Flora Habitat“ und daraus folgt: Der Mensch, wenn er nicht gerade Pilze sammelt, Radl fährt oder Windräder baut, hat sich fernzuhalten.

Wo Müll ist oder Industrie mit viel Lärm, da haben alle anderen viel Abstand zu halten. Nur die Straße passt nicht so wirklich in dieses Schema. Denn einerseits soll sie stets in der Nähe sein, um gut angebunden zu sein. Aber bitte nicht direkt hinter meinem Garten.

Würde man die Autobahn nördlich von Leverkusen heute noch einmal bauen, es gäbe für sie einen sehr viel geeigneteren Korridor ein paar Kilometer weiter um den Stadtteil herum, den sie heute von der Innenstadt trennt. Die Müllkippe würde man vielleicht abreißen und stattdessen das Flussdelta der Dhünn renaturieren. Könnte schön werden.

„Wenn ich Glück habe, dann kann ich 2020 noch den ersten Brückenteil eröffnen“ Michael Groschek, NRW-Verkehrsminister. Quelle: dpa

Aber nun ist die Brücke eben da, wo sie ist, im Norden ist längst ein Naturschutzgebiet, und die Müllkippe abzuräumen wäre ohnehin viel zu teuer, seit sie versiegelt ist. Also ist alles kompliziert.

So kompliziert, dass Hannelore Kraft den Hintereingang wählen muss, als sie kurz vor Weihnachten in anderer Sache nach Leverkusen kommt. Der Bayer-Konzern feiert sein 150-jähriges Firmenjubiläum im Bayer-Erholungsheim, einem Jugendstilbau, den der Konzern einst für die Arbeiter im Werk erbaute und dann den Bürgern der Stadt übereignete. Doch von Dankbarkeit keine Spur. Zu Hunderten pusten die Demonstranten in ihre Trillerpfeifen, wenn immer sich eine der vielen dunklen Audi-Limousinen dem Gebäude nähert. Die SPD-Ministerpräsidentin Kraft wollen sie sehen, um ihre simple Botschaft zu überbringen: Hände weg von der Deponie, am besten ganz weg mit der Brücke und stattdessen ein langer Tunnel.

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