Segensreiche Folgen hat das vor allem für den Freiheitsbegriff der Liberalen. Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill (1859) und “lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit… sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten”.
Mill ging es damals darum, jeder noch so wohlgemeinten Fürsorge einer Regierung möglichst enge Grenzen zu setzen. Er fürchtete um die Freiheitsfähigkeit mündiger Bürger im Schoße eines Nanny-Staates und den Verlust ihrer Tugendhaftigkeit, weil er bezweifelte, “dass mit kleinen Menschen… große Dinge vollbracht werden können”. Freiheit, so Mill, bestehe ganz einfach darin, zu tun was man wolle. Solange zum Beispiel jeder wisse, dass eine Brücke unsicher sei, sei niemand daran zu hindern, sie dennoch zu betreten - im Gegenteil: Erst die Freiheit, das Wagnis einzugehen oder nicht, schärfe den Verstand und erhalte die Wachsamkeit.
Das klingt gut - aber wie lässt sich die liberale Freiheit von Mill mit dem Prinzip der Sorge und Bestandspflege vereinbaren, von dem das liberale Eigentum seit Wilhelm Röpke erzählt? Der Schlüssel liegt im Begriff der Verantwortung. Natürlich kann die “Schädigung anderer”, die nach Mill die Grenze der Freiheit bezeichnet, heute mühelos und aus jedem noch so geringfügigen Anlass nachgewiesen werden - ein Kohlekraftwerk in der Kamschatka zum Beispiel schädigt die Lebensgrundlagen meines nichtgeborenen Enkels - und natürlich marschieren unsere politischen Schutzmächte täglich auf, um erstens Alarmstimmung zu verbreiten und uns zweitens zu retten: vor Klimasündern, Rauchern und Bankberatern, vor Facebook-Parties, Scientology und unfair gehandeltem Kaffee. Die anspruchsvolle Aufgabe des Liberalismus bestünde nun darin, eine qualitative Bestimmung vorzunehmen: Welche Freiheiten schaden wirklich, welche wollen wir dennoch dulden, welche sollen unantastbar sein?
Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der “negative” Freiheitsbegriff der Liberalen nicht aufrechtzuerhalten ist. Freiheit, so Taylor, sei “eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben”, das heißt: Sie ist nicht einfach vorhanden und gleichsam frei verfügbar, sondern eine “Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben”. Sie besteht eben nicht in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen, auf die hin sie ausgerichtet ist, eine größere Bedeutung beimessen als anderen.
Nordkorea zum Beispiel ist nicht deswegen ein liberaleres Land als Frankreich, weil die Freiheit der Autofahrer in Pyöngyang in Ermangelung von Ampeln größer wäre als die der Autofahrer in Paris - denn obwohl die persönliche Freiheit des Autofahrers in Paris täglich vor roten Ampeln kapituliert, nehmen wir ihren Verlust gleichmütiger hin als das Verbot, uns alle 1461 Tage eine neue Regierung wählen zu dürfen. Und so in allem: Es ist nicht egal, ob ich meine musischen Talente sorgsam schule oder bei “Deutschland sucht den Superstar” erprobe. Es ist nicht egal, ob ich bei einem Drogeriemarkt einkaufe, der seine Mitarbeiter anständig bezahlt und behandelt - oder beim Ausbeuter nebenan.