Wieso hat die Regierung die Steuern überhaupt gesenkt? Bislang galt Orbán nicht als Freund der Reichen und Mächtigen.
Die Regierung ist in sozialen wie in Zukunftsfragen unempfindlich. Orbán hatte immer den Traum, eine neue obere Mittelschicht in Ungarn zu schaffen. Erinnern wir uns: Wie alle sozialistischen Länder hatte Ungarn eine breite Mittelschicht, es gab kaum Reiche und kaum Arme. Durch den Transformationsprozess hat sich das geändert. Fidesz trat mit dem Ziel an, eine neue gutbürgerliche Mittelschicht zu schaffen. In Wirklichkeit aber führt all das nur dazu, dass Ungarn gespalten wird, dass die Wirtschaft ruiniert wird und wenige Orbán-Getreue profitieren. Ungarn droht zu einem Mafia-Staat zu werden.
Das sind harte Worte. Sie müssen Ihre These bitte erklären.
Eine Gruppe von Soziologen hat ein Buch über Ungarn geschrieben. Titel: „Der Mafia-Staat“. Dieses Vokabular ist also nicht meine Erfindung, ich teile die Einschätzung aber. Zu den Hintergründen: Es ist inzwischen so, dass ein Großteil der EU-Fördergelder an die immer gleichen Leute fließt – an Freunde von Freunden der Orbán-Regierung. Das gilt in der Landwirtschaft, wie im Bau, wie im Straßenwesen. Es ist nicht entscheidend, ob die Unternehmen gute Arbeit liefern, sondern ob sie über die nötigen Kontakte verfügen. Und wenn es Hindernisse bei der Zuteilung von Geldern gibt, handelt die Regierung nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Haben Sie von dem Streit um die Tabak-Länden in Ungarn gehört?
Ungarns Schwächen
Einzelne Sektoren wie Banken oder Energie haben in Ungarn mit extremen steuerlichen Belastungen zu kämpfen.
Vor allem in technischen Berufen herrscht in Ungarn Fachkräftemangel.
Trotz des günstigen Investitionsumfelds fiel die Investitionsquote Ungarns auf nur noch 17 Prozent.
Durch das schwindende Vertrauen Ungarns im Ausland sinkt der FDI-Zufluss (Foreign Direct Investment, ausländische Direktinvestitionen)
Durch die Zuspitzung der Kreditklemme im Land drohen Insolvenzen und Zahlungsausfälle.
Nur grob. So weit ich weiß, wurden Lizenzen reglementiert, um den Nichtraucherschutz zu stärken.
Naja, so war zumindest die Argumentation der Regierung. Früher war es so: Zigaretten konnte man überall kaufen. Orbán kam auf die Idee, das Geschäft einzudämmen – mit dem Argument, er wolle die Kinder schützen. Deswegen hat man ein neues Netzwerk geschaffen, spezielle Tabak-Läden. Alle, die früher Zigaretten verkauft und Erfahrung im Geschäft hatten, mussten sich neu um Lizenzen bewerben. Die meisten sind leer ausgegangen. Sie wurden ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt. Die Orbán-Freunde haben rund 80 Prozent der Lizenzen bekommen.
Bei all den negativen Szenarien, die Sie beschreiben, ist es erstaunlich, dass Ungarn noch immer wettbewerbsfähig ist und Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet.
Ungarns Wettbewerbsfähigkeit wird immer mehr untergraben. Das sieht man an den Zahlen noch nicht. In der Tat haben wir einen hohen Handelsbilanzüberschuss. Das ist aber nicht die Folge der rasant steigende Exporte, sondern Folge der zurückgegangenen Importe, weil es keine Investitionen gibt. Wenn ich Geld und eine Projektidee hätte, ich würde sie ganz sicher nicht in Ungarn verwirklichen. Es gibt keine Rechtssicherheit mehr und keine Investitionsbereitschaft. Einzige Ausnahme ist die Automobilindustrie. Daimler und Audi etwa sind weiter in Ungarn aktiv. Vergessen Sie aber nicht, dass der Vertrag mit Daimler noch von der früheren Regierung unterschrieben wurde, da war die Atmosphäre eine ganz andere.