Sozialphilosoph Hans Joas "Die Lust an genereller Kapitalismuskritik ist zurück"

Seite 7/7

Faktoren des Wertewandels

Wo die reichsten Menschen wohnen
Dutch soccer fans hold letters that spell 'ORANGE' to support their national team Quelle: REUTERS
A Squamish first nation canoe paddles down the Burrard Inlet during a protest in Vancouver Quelle: REUTERS
Triathlete Simon Whitfield of British Columbia, waves the Canadian Flag on Parliament Hill in Ottawa. Quelle: dapd
Ferrari Formula One team manager Jean Todt, at right on video screen at far right, is seen during the unveiling of the new Ferrari store in Rome's shopping district Via Tomacelli Quelle: AP
Outside view of Chateau-Giscours vineyards and main entrance,near Bordeaux, in southern France Quelle: AP
Karl Weber, Direktor von Schlösser und Gärten in Hessen Quelle: dpa
A view of British luxury retailer Harrods Quelle: dpa

Ein Zuwachs an Sensibilisierung führt – rückblickend – zu einem Zuwachs an Missständen? 

Die zunehmende Sensibilisierung wirft jedenfalls ein immer neues Licht auf die Vergangenheit. Denken Sie nur an die Frauenbewegung. Sie hat dazu geführt, dass wir die Geschichte heute in einem ganz anderen Licht sehen als noch vor drei, vier Jahrzehnten – nämlich immer auch aus dem Blickwinkel des Wertes der Gleichberechtigung der Geschlechter.

Welche Faktoren bestimmen einen Wertewandel? 

Wandlungsprozesse spielen sich in einem Dreieck von Werten, Institutionen und Praktiken ab. In der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik zum Beispiel haben zunächst auf der Ebene der Institutionen Veränderungen stattgefunden, die nicht wirklich gedeckt waren von den Wertüberzeugungen und Praktiken der meisten Deutschen dieser Zeit. Das heißt: Die Deutschen haben mit 20jähriger Verspätung den Geist des Grundgesetzes eingeholt. Es kommt aber auch vor, dass eine Debatte über das Gute rechtlichen Veränderungen vorangeht. Oder dass sich Verhaltensweisen ohne große gesellschaftliche Diskussion oder Rechtsetzungen wandeln. Die Folter etwa wurde beinahe in aller Stille abgeschafft, ganz einfach, weil die Leute im 18. Jahrhundert es zunehmend unerträglich fanden, Marter zu zelebrieren.

Was aber, wenn das moralisch Verwerfliche aus dem Blick gerät? Wenn es ausgelagert wird – zum Beispiel in die Textilfabriken Bangladeschs? 

Das moralisch Verwerfliche kann heute weniger denn je dem Blick der Öffentlichkeit völlig entzogen werden. Dass es derzeit eine Debatte über die Herkunft von unfassbar billigen Textilien gibt, wird zunächst einmal von der schieren Evidenz ihrer Billigkeit begünstigt: Jeder, der ein T-Shirt für fünf Euro einkauft, ahnt, dass das nicht mit rechten Dingen, oder genauer: mit fairen Mitteln zugehen kann. Wenn dann rauskommt, dass das T-Shirt tatsächlich unter schrecklichen Arbeitsbedingungen hergestellt wird, wird diese Ahnung konkret. Dann gibt es plötzlich einen Konnex zwischen dem moralisch abgelehnten Phänomen und mir – und dann sage ich vielleicht: Dieses T-Shirt kaufe ich nicht. 

Oder ich empöre mich kurz, schimpfe auf den Kapitalismus – und versuche die Bilder von brennenden Fabriken beim nächsten Einkauf aus dem Kopf zu bekommen. 

Die moralische Empörung ist zunächst einmal nicht schlecht. Aber natürlich kann sie verpuffen. So ist das halt. Ich würde da nicht moralistisch reden. Man kann nicht verlangen, dass jetzt jeder zu C&A oder H&M geht und eine Grundsatzdebatte vom Zaun bricht. Man darf die Konsumenten auch nicht überfordern. Statt dessen würde ich auch hier auf institutionelle Regelungen setzen.

Der Staat soll’s richten? 

(lacht): Nicht richten. Aber die Wirtschaft mit guten Gesetzen daran erinnern, dass etwa die Einhaltung von Sozialstandards auch in ihrem Interesse ist – das darf er schon. 

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%