Man steht auf den Ruinen der – ökonomischen – Integration – und deutet sie zu einem Grundstein für die Walhalla Europa um.
(lacht): Ja, genau – wobei ich nachvollziehen kann, dass die Diskussion in der Krise auf die Spitze getrieben wird: Entweder wir gehen einen Schritt zurück oder einen radikalen Schritt nach vorne. Beides hat seine Logik. Aber der Schritt zur stärkeren Integration hat derzeit keine realpolitische Basis. Es gibt einen Elitenkonsens für “mehr Europa“, gewiss. Dennoch steht eine Steigerung des Integrationsprozesses nicht zur Debatte, weil es dafür in keinem Land eine Mehrheit geben würde. Nicht einmal in Deutschland.
Nicht einmal in Deutschland?
Naja, ich glaube schon, dass in Deutschland ein Art von negativem Nationalismus verbreitet ist. So wie es etwa 1985 politisch unkorrekt, ja: anrüchig war, die deutsche Wiedervereinigung für eine positive Perspektive zu halten, so fürchten heute viele, Bedenken gegenüber einer politischen Integration Europas zu äußern, weil sie Angst davor haben, nationalistischer Gedanken verdächtigt zu werden. So kommt es, dass Griechenland “Solidarität” rufen kann, wenn es recht eigentlich meint: “Zahlt unsere Schulden!” – dass es als Land erscheint, dem wir helfen müssen, und nicht als durch und durch korrupte politische Ordnung.
Man könnte, frei nach Nietzsche, von der Umwertung aller europäischer Werte sprechen?
Es ist jedenfalls merkwürdig, dass wir “Europa” zu einem hohen Wert erklären – und nicht etwas, an dem sich die Handlungen und Strukturen seiner Mitgliedsländer messen lassen müssen. Das kannte man bisher vornehmlich aus den USA. Dort gibt es traditionell einen Frontenverlauf zwischen denen, die sagen: Unser Amerika ist “God’s own country” – und denen, die sagen, es ist natürlich genau umgekehrt: Wir Amerikaner müssen uns bei jeder unserer Handlungen fragen, ob das, was wir tun, “auf der Seite Gottes stehen” heißt.
Schön und gut. Aber woher weiß man, mit welcher Art zu handeln man auf der Seite Gottes – oder des Guten – steht?
Zunächst gibt es so etwas wie eine vorreflexive Wertbindung. Sie verdankt sich Vorbildern, Erfahrungen, Gemeinschafts- und Offenbarungserlebnissen – auch in negativer Hinsicht: Dass seine Misshandlung etwas Böses ist, leuchtet dem Misshandelten auch ohne umständliche Begründung ein. Zweitens entstehen Werte aus geteilten Geschichten: Fundamentale Meinungsdifferenzen zwischen einem Atheisten und einem Gläubigen etwa bedeuten nicht das Ende der moralischen Verständigung, wenn beide zu Wertegeneralisierungen fähig sind. Sie sind sich vermutlich einig darin, dass der Holocaust etwa Böses war. Und diese Einigkeit lässt nicht nur ein gemeinsames politisches Handeln zu, sondern auch bestimmte Beschreibungen des moralisch Gebotenen.