Als Werkzeugmacher hatte Müller in den Siebzigerjahren bei Audi angefangen; nach einem Informatik-Studium kehrte er zu dem Autobauer zurück und wurde 1995 Leiter des gesamten Produktmanagements.
Knapp zehn Jahre später, so schildern es US-Staatsanwälte, hatten Techniker der Audi-Motorentwicklung eine verhängnisvolle Idee. Sie wollten der nagelnden Geräusche von Dieselmotoren Herr werden: Mit zusätzlichen Einspritzungen von Diesel ging das Geräusch zurück. Bloß stiegen dadurch die Emissionen.
Was taten die findigen Ingenieure? Sie schrieben ein Mogelprogramm: Im Normalbetrieb waren die derart manipulierten Autos leise und die Abgase dreckig; bei Emissionsmessungen gingen sie in den lauteren Modus, hielten dafür aber die Grenzwerte ein.
Hatte Informatiker Müller die Finger im Spiel? Eher unwahrscheinlich. „Es gab damals wenig Gründe für die Motorenbauer, ihr Handeln intern an die große Glocke zu hängen“, sagt ein Audi-Insider, daher müsse Müller davon nicht zwingend erfahren haben. Offiziell heißt es bei VW: Als Produktmanager hatte Müller nichts mit dem Schreiben von Motorsteuersoftware zu tun.
Ganz anders könnte es aber bei Vertrauten Müllers, etwa den Verantwortlichen für Motorenbau, Elektronik oder Forschung und Entwicklung sein. Wollten sie nicht wissen, warum die Motoren auf der Straße so leise wurden? Und warum sie auf dem Prüfstand bei Emissionsmessungen lauter waren?
Vier Jahre lang kam das Programm mit der internen Bezeichnung „Akustikfunktion“ bei 3-Liter-Motoren von Audi zum Einsatz, so die Erkenntnis von US-Fahndern. Müller, Hatz und Hackenberg machten sich unterdessen auf zu neuen Herausforderungen: Als ihr damaliger Chef Winterkorn 2007 zum neuen Chef des VW-Konzerns aufstieg, nahm er das Triumvirat nach Wolfsburg mit. Müller wurde Leiter des Produktmanagements im Konzern, Hatz der Konzern-Motorenchef, Hackenberg Entwicklungschef der Marke VW.
Der Fall Volkswagen vor Gericht
Bundesweit klagen Autobesitzer vor mehreren Gerichten wegen überhöhter Stickoxidwerte auf Rückabwicklung des Kaufs oder Schadensersatz. Allein vor dem Landgericht Braunschweig sind mehr als 200 solcher Klagen anhängig. Die auf Verbraucherschutzverfahren spezialisierte Onlineplattform MyRight, die mit der US-Kanzlei Hausfeld zusammenarbeitet, reichte zu Jahresbeginn die erste Musterklage ein, mit der die Klagen vieler Betroffener gesammelt werden sollen. Diese Klagen, die derzeit viele Langerichte in ganz Deutschland beschäftigen, sind unabhängig von den Ermittlungen der Braunschweiger Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Marktmanipulation und des Betrugs gegen mehrere VW-Verantwortliche.
„Die durch den gesamten Abgasskandal entstandene Wertminderung kann noch am ehesten angesetzt werden, um Schadenersatz beim Hersteller durchzusetzen“, sagt Rechtsexperte Klaus Heimgärtner vom ADAC. Voraussetzung sei aber, dass die Merkmale der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung oder der Verletzung eines Gesetzes zum Schutz eines Dritten erfüllt seien. Das Problem: „Bislang gibt es keine zuverlässigen Zahlen über Wertminderungen von gebrauchten VWs mit unzulässiger Abschalteinrichtung“, so Heimgärtner.
In Deutschland gibt es keine Sammelklagen wie in den USA. Im Prinzip bleibt nur die Einzelklage gegen den Händler oder den Hersteller. "In den USA müssen Geschädigte nicht aktiv werden und klagen, das übernehmen Einzelpersonen, die als Sammelkläger auftreten", erklärt Jan-Eike Andresen, Leiter der Rechtsabteilung und Co-Gründer von MyRight. "Da kommt irgendwann der Scheck von VW über 10.000 Dollar für jeden Geschädigten. In Deutschland müssen Kunden mindestens einen Anwalt beauftragen oder ihre Ansprüche an myRight abtreten, damit etwas passiert. Diese Hemmschwelle zum Tätigwerden nutzt VW natürlich zu seinen Gunsten aus."
Das liegt am deutschen Recht. „In den USA haben Schadenersatzzahlungen neben der Schadenbeseitigung auch Strafcharakter, das treibt die Schadenshöhe“, erklärt Horst Grätz von der Regensburger Kanzlei Rödl & Partner. In Deutschland hingegen wird nur der tatsächlich entstandene Schaden beglichen. Den muss der Kunde allerdings nachweisen.
Ja, aber auch schon zu deren Ungunsten. Insgesamt gibt es 120 verschiedene Urteile. „Solange das nicht höchstrichterlich, am besten vom Bundesgerichtshof geklärt ist, ist jeder Richter frei, über den Rücktritt vom Kauf zu urteilen“, erklärt Jura-Professor Florian Bien von der Universität Würzburg.
Eine finanzielle Entschädigung der Kunden in Europa lehnt VW ab, obwohl sich Forderungen nach einem ähnlichen Vergleich wie in den USA mehren. Sollten diese dennoch fällig werden, könnte das Volkswagen wegen der viel größeren Zahl betroffener Kunden im Vergleich zu den USA finanziell ruinieren, fürchten Experten. Der Autoanalyst Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler geht von einem Wertverlust in einer Größenordnung von 500 Euro je Fahrzeug aus.
2007–2010: Produktstratege des Konzerns
Winterkorn stellte seine Getreuen alsbald vor eine große Aufgabe: Sie sollten Dieselfahrzeuge fit für den US-Markt machen. Dort vermutete er große Absatzpotenziale. VW-Techniker loteten aus, wie die strengen NOx-Grenzwerte mit dem Diesel erreichbar wären, und entschieden sich für einen simplen Katalysator. Deren Speicher aber hielt nicht lange. Doch zum Glück gab es die Edel-Tochter in Ingolstadt und ihre „Akustikfunktion“ – sie konnte helfen. Das Programm sorgte fortan dafür, dass der Katalysator vor allem bei Emissionsmessungen zum Einsatz kam, ansonsten aber geschont wurde, was im Normalbetrieb zu 10- bis 40-fachen Überschreitungen des amerikanischen NOx-Grenzwertes führte.
Das ereignete sich, kurz nachdem Müller und Co. in Wolfsburg angetreten waren. Wie die „Akustikfunktion“ von Ingolstadt nach Wolfsburg gelangte, ist nicht bekannt.
Unterdessen bahnte sich neues Unheil an, für Audi und VW. Bei Tests mit dem VW-Geländewagen Touareg und dem Audi Q7 im Jahr 2007 sollen AdBlue-Verbräuche von bis zu acht Litern pro 1000 Kilometer festgestellt worden sein, berichtete der „Spiegel“. Weil der AdBlue-Tank nur 16 Liter fasste, wäre alle 2000 Kilometer Nachtanken des Harnstoffs in der Werkstatt angesagt gewesen. Das galt als nicht haltbarer Zustand. Die Lösung: die „Akustikfunktion“, diesmal eingesetzt als AdBlue-Dosierungsstrategie – viel AdBlue im Emissionstest, wenig im Normalbetrieb.
Millionenfach sollte die Schummeltechnik in den kommenden Jahren zur Anwendung kommen. Die Strategie gipfelte ausgerechnet in dem Modell, das die große Renaissance der Marke VW in den USA einläuten sollte, dem amerikanischen Passat. Der Mittelklassewagen bekam 2009 eine verfeinerte Variante der Software, die auch erkennen konnte, ob ein Fahrzeug gelenkt wird oder gänzlich ohne Lenken beschleunigt wird, was auf einen Test schließen ließ.