Den schmalen Grat zwischen Aus- und Überdehnung konnte Schwarz zuletzt beim Ruin seines früheren Geschäftsfreundes Anton Schlecker beobachten. Schwarz, das geht aus einem Insolvenzgutachten hervor, gehört zu den größten Gläubigern des Drogerie-Pleitiers.
Ironie des Schicksals: Vor ein paar Jahren waren die Verhältnisse umgekehrt. Schlecker hatte Schwarz Millionenbeträge für die Expansion geliehen – doch anders als der schwäbische Seifenpatriarch wusste der Lidl-Schöpfer das Kapital zu nutzen.
Expansion bis nach Litauen
Die Discounter-Flotte parkt auf dem Flugplatz in Schwäbisch Hall. Vier Cessna-Jets und ein Helikopter sollen von hier aus regelmäßig Konzernmanager in eines der 26 Lidl-Länder Europas fliegen, berichten Insider. Seit Frankreich-Fan Schwarz 1988 die Auslandsexpansion im Nachbarland startete, hat sich Lidl in alle Himmelsrichtungen ausgedehnt und verkauft Brot und Butter in Großbritannien und Italien ebenso wie in Finnland, Polen und der Schweiz. Serbien und Litauen sollen demnächst folgen.
Die stete Expansion hat die Umsätze in der vergangenen Dekade nach oben katapultiert. Bei rund 74,3 Milliarden Euro verortet Matthias Queck, Discount-Experte des Handelsdatenspezialisten PlanetRetail mit Sitz in London und Frankfurt, die Jahres-Bruttoerlöse der Schwarz-Gruppe. „Lidl und Kaufland verzeichneten zwischen 2006 und 2011 im Schnitt jährliche Wachstumsraten von 8,6 Prozent“, sagt Queck.
Halten die Neckarsulmer Kurs, könnten sie beim Umsatz schon im kommenden Jahr mit Metro gleichziehen oder die Düsseldorfer sogar knapp überholen.
Aufstieg zum größten deutschen Händler
Nachhaltig besiegelt wäre der Wachwechsel, wenn sich die Rheinländer, zu denen die Kaufhauskette Kaufhof, der Elektronikhändler MediaSaturn und die SB-Warenhäuser von Real gehören, von einzelnen Konzernteilen trennen. So sondiert Metro-Chef Olaf Koch derzeit einen Verkauf der Osteuropa-Aktivitäten von Real. Kommt es dazu, fällt der stolze Superlativ an den Krämer aus dem Ländle. Spätestens aber 2014, so Quecks Prognose, wird die Vormacht der Metro in jedem Fall gebrochen. Die Schwarz-Gruppe steigt zum größten deutschen Händler auf.
Mit dem absehbaren Titelgewinn drängt jedoch die Frage auf die Agenda, wo Gehrig und Schwarz in ein paar Jahren, wenn auch die letzten Lidl-freien Landstriche in Europa erschlossen wurden, noch Perspektiven sehen. Die Führungsspitze gibt sich gelassen: Durch Erweiterungen und Renovierung oder die Verlagerung von Filialen an attraktivere Standorte würden reichlich „Expansions- und Entwicklungsmöglichkeiten bestehen“, lässt Gehrig mitteilen, hält sich aber alle Möglichkeiten offen: „Märkte jenseits von Europa sind eine Option“, wenngleich es derzeit keine konkreten Planungen gebe.
Discount-Entwicklungsländer
Tatsächlich kommen für die Strategen vom Neckar wohl vor allem die Türkei und die USA in Betracht. Beide Märkte sind noch immer Discount-Entwicklungsländer und gelten in der Handelszunft als ebenso reizvoll wie risikoreich. So müssten für den Start in der Türkei deutlich mehr regionale Produkte ins Sortiment aufgenommen werden: Tiefkühl-Köfte und Pistazien-Halva statt Gebirgsjäger-Frikadellen und Choco Crossies. Das Problem dabei: Beim Preisgefeilsche mit den Lieferanten könnten die Lidl-Einkäufer nicht ihre gewohnte Marktmacht ausspielen, zu gering wären die Einkaufsvolumina – der Schritt gen Bosporus dürfte teuer werden.
Aber auch die Atlantik-Querung ist ein Wagnis. Das Management hätte über Jahre mit dem US-Aufbau zu tun, die Expansion würde Unsummen verschlingen. Zugleich birgt das Land enormes Umsatzpotenzial und könnte langfristig als Brückenkopf für weitere Discount-Destinationen wie Mexiko und Kanada dienen. Wichtiger noch: In den USA trumpft zunehmend Aldi auf.