Konjunktur Deutschlands neues Wirtschaftswunder

Der XXL-Aufschwung schrumpft. Doch Deutschlands Unternehmen müssen sich nicht fürchten. Wie sich mittelständische Unternehmen und Dax-Konzerne gewappnet haben, und was Anleger davon haben.

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BASF Quelle: BASF

Eigentlich müsste Jochen Hahne Trübsal blasen. Die Weltwirtschaft stottert und auch in Deutschland lässt das Wachstum nach. Doch der Chef und Gesellschafter des Büromöbelbauers Wilkhahn in Bad Münder bei Hildesheim ist guter Dinge.

„Mit ein bisschen Glück werden wir im laufenden Jahr unseren Rekordumsatz von 2007 mit 94,6 Millionen Euro knacken“, sagt der Niedersachse. In den ersten sechs Monaten legte der Umsatz um 20 Prozent zu. Vor allem die Deutschen und die Chinesen bestellten wie wild die Designmöbel vom flachen Land. Hahne spürt zwar, dass der Auftragsdruck nachlässt, allerdings nicht so stark, dass er sich Sorgen macht.

„Und wenn der Abschwung kommt“, sagt Hahne, „sind wir besser darauf vorbereitet denn je.“ Frühzeitig baute der Mittelständler für die kommenden Flauten vor. In der vergangenen Krise war der Umsatz um ein Drittel gefallen. Seine Beschäftigten bekommen Mehrarbeit nicht direkt bezahlt, sondern bunkern sie für auftragsarme Zeiten. Bis zu 200 Stunden können Hahnes Leute auf diese Weise ansparen - und unter bestimmten Umständen ein halbes Jahr Flaute ohne große Gehaltseinbußen und Extrakosten fürs Unternehmen überbrücken. Wenn es hart kommt, kann Hahne das Weihnachts-und Urlaubsgeld ausfallen lassen und später nachzahlen.

Wilkhahn steht für das neue Selbstbewusstsein, das in den meisten deutschen Unternehmen vorherrscht. Statt vor drohenden Abschwüngen zu zittern, bauen die Chefs auf die Konsequenzen aus der schlimmsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, die Deutschland 2008/09 erlebte. „Für die Unternehmen hierzulande gibt es keinen Grund, in Panik zu geraten“, sagt Christan Schuh, Partner bei der Unternehmensberatung A.T. Kearney, „sie haben aus der letzten Konjunkturkrise gelernt und können mit dem Auf und Ab der Märkte viel besser umgehen.“

Anders als vor wenigen Jahren, verfügen die Unternehmen heute über einen Werkzeugkasten zur Krisenbewältigung, der so gut gefüllt ist wie nie zuvor. Arbeitszeitkonten, freiwilliger Lohnverzicht, Zeitarbeit, Kurzarbeit – allein wenn es darum geht, Lohnkosten zu sparen, aber Stammmitarbeiter für den späteren Aufschwung zu halten, sind deutsche Unternehmen inzwischen bestens präpariert.

Zugleich stehen viele Konzerne und Mittelständler wirtschaftlich so stark wie wie nie da, um einen möglichen Abschwung ohne große Blessuren zu überstehen. Die Auftragsbücher sind voll, Lieferzeiten von acht Monaten und mehr keine Seltenheit. Die Bilanzen strotzen vielerorts nur so vor Solidität. Wer gut im Geschäft ist, hat in der Krise nur maßvoll Geld verloren und nach dem Abschwung wieder gut verdient. Etliche der 30 Dax-Konzerne haben ihre Eigenkapitalquote seit Ende 2007 trotz des Einbruchs 2008/09 erhöht. Alle deutschen Börsenschwergewichte zusammen sitzen derzeit auf Reserven von über 180 Milliarden Euro. Noch vor zwei Jahren waren es nur rund 100 Milliarden Euro.

Was mit Blick auf die Zukunft aber mindestens so viel zählt, sind die vielfach runderneuerten Geschäftsmodelle und -prozesse. Unternehmen haben sich in der Krise auf die zukunftsträchtigen Märkte fokussiert und schwache oder verlustreiche Sparten abgestoßen – die Deutsche Post zum Beispiel das defizitäre US-Geschäft ihres Expressdienstes DHL. Andere wie Heidelberger Druckmaschinen oder die zumeist deutschen Töchter des Schweizer Maschinenbauers Oerlikon haben die Gewinnschwelle gesenkt und schreiben jetzt schon bei weniger Einnahmen schwarze Zahlen.

Das ist gut so.

Kurzarbeit

Denn Anzeichen für einen möglichen Abschwung und ein Ende des deutschen XL-Aufschwungs der vergangenen zwei Monate gibt es zahlreiche. Der Deutsche Aktienindex Dax verlor im August rund ein Fünftel. Das Wachstum lahmt. Von April bis Juni legte Deutschlands Wirtschaft gerade einmal um ein mageres Zehntelprozent zu. Die wichtigen Frühindikatoren zeigen nach unten. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erwartet sieben schwache Jahre für die globale Konjunktur. Und Tim Moore, Deutschland-Analyst beim Londoner Research-Unternehmen Markit, befürchtet ein „anämisches Wachstum“ für Deutschlands Wirtschaft in den kommenden Monaten.

Doch die Furcht vor der Blutarmut hält sich auffällig in Grenzen. „German Angst“ war einmal. Konsumtempel wie das Berliner Einkaufscenter Alexa am Alexanderplatz bersten fast vor Besuchern. Durch den MediaMarkt schieben sich die Massen, in den Schuhgeschäften reichen die Sitzplätze für die Anprobe nicht. „Bei unseren Kunden herrscht definitiv Shoppinglaune“, sagt Thomas Binder, Deutschland-Chef des portugiesischen Centerbetreibers Sonae Sierra, der das Alexa managt, „von gedämpften Konjunkturerwartungen spüren wir hier nichts.“ Im August hat die ohnehin hohe Anschaffungsneigung der Deutschen, so der Nürnberger Marktforscher GfK, sogar noch noch einmal um 2,8 Punkte zugelegt und weist nun 36,9 Zählern auf – neun mehr als vor zwölf Monaten.

Die Zuversicht in den Unternehmen resultiert aber weniger aus der Konsumlaune der Deutschen, sondern aus der erfolgreichen Bewältigung der Krise 2008/09 - und den daraus gewonnenen Lehren und Erfahrungen.

Rettungsring Kurzarbeit

Die Möglichkeit, Beschäftigte weniger arbeiten und Teile des Lohns vom Arbeitsamt zahlen zu lassen, gibt es zwar seit über hundert Jahren. Doch mit Ausnahme des Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung nahmen bis 2008 nur wenige Branchen wie Bau und Bergbau das Instrument systematisch in Anspruch. Erst mit der Finanzkrise verbreitete sich die Kurzarbeit durch Gesetze und Vereinbarungen der Tarifpartner flächendeckend fast über alle Branchen. Sogar der Luxusuhrenhersteller Lange & Söhne meldete im März 2009 Kurzarbeit an, um seine Mitarbeiter im Unternehmen halten zu können. Der Gesetzgeber hatte kurz zuvor in einer Blitzaktion die Möglichkeiten für Kurzarbeit ausgeweitet und erlaubt, dass Beschäftigte bis zu 24 Monate kurzarbeiten dürfen.

Vor allem der Maschinenbau konnte dadurch bis zum Aufschwung überwintern. Rund die Hälfte der Unternehmen nutzte die Kurzarbeit. Der schwäbische Lasermaschinenbauer Trumpf schickte an fast allen deutschen Standorten seine Mitarbeiter in Kurzarbeit, zum Teil bis zu 20 Monate. Der Werkzeugmaschinenbauer Gildemeister ließ 1000 seiner fast 6000 Mitarbeiter kurzarbeiten, der Schweizer Maschinenbauer Oerlikon beinahe 2500 - mehr als die Hälfte der in Deutschland Beschäftigten. Aber auch die Deutsche Lufthansa bediente sich bei rund 3500 Mitarbeitern der Kostenreduzierung durch die Bundesagentur für Arbeit. „Vor allem bei der Luftfracht haben wir gute Erfahrungen mit der Kurzarbeit gemacht“, sagt Lufthansa-Chef Christoph Franz.

Darauf können die Unternehmen vermutlich wieder bauen. Käme es erneut zu einem Konjunktureinbruch, würde die Regierung – egal welcher Couleur – wohl wieder den Rettungsring Kurzarbeit auswerfen. Per Verordnung könnte wie 2009 und 2010 geregelt werden, dass Unternehmen nicht wie zurzeit maximal sechs, sondern zwölf, 18, oder gar 24 Monate konjunkturbedingt kurzarbeiten könnten.

Für andere bewährte Maßnahmen müsste Berlin erneut Gesetze beschließen oder einem aktuellen Vorstoß der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) folgen. Die fordert, die Kurzarbeits-Liberalisierungen von 2009 künftig nicht mehr aufwändig per Gesetz, sondern bei Bedarf mit einer Anordnung des Bundesarbeitsministeriums in Kraft zu setzen. Denn viele der 2009 und 2010 erstmals genutzten Kurzarbeitsregeln wurden im damaligen Konjunkturpaket II bis Ende März 2012 gesetzlich befristet. Ausgesetzt ist etwa die alte Vorgabe des Sozialgesetzbuchs, wonach ein Drittel der Beschäftigten eines Betriebs konjunkturbedingt von Arbeitsausfall betroffen sein muss.

Heute können die Unternehmen schon für einen einzigen Mitarbeiter mit monatlich mindestens zehn Prozent Arbeitsausfall Kurzarbeit beantragen. Neu war 2009 auch, dass Arbeitszeitguthaben nicht aufgebraucht werden müssen, bevor ein Betrieb kurzarbeiten darf - Experten sehen darin eine weitere wichtige Stütze für den möglichen Ernstfall.

Gebunkerte Arbeitszeit

Heidelberger Druckmaschinen Quelle: Picture-Alliance/DPA/Uwe Anspach

Arbeitszeitkonten waren 2008/09 eines der wichtigsten Instrumente der Unternehmen, um die Auftragseinbrüche abzufedern. Auch im Falle eines neuerlichen Abschwungs in den kommenden Monaten dürfte das wieder so sein. Denn die flexiblen Konten sind für die Unternehmen zugleich das Sprungbrett, um ohne Verzögerung und kraftvoll in den darauf folgenden Aufschwung zu gehen. Jeder dritte Betrieb hatte das Instrument genutzt. Allein in den ersten neun Monaten war die Zahl der durchschnittlich gebunkerten Stunden pro Arbeitskraft nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung von 72 auf 27 Stunden gesunken.

„Als es wieder hochging, konnten wir die Produktion vor allem wegen der Arbeitszeitkonten wieder so schnell hochfahren“, resümiert Wilkhahn-Chef Hahne. Gemessen am Tiefstand 2009 dürfte er den Umsatz bis Ende 2011, also in kaum zwei Jahren, um fünfzig Prozent hochgefahren haben. Solche Erfolge kommen so gut an, dass inzwischen viele Unternehmen für ihre Beschäftigten Arbeitszeit für schlechte Zeiten bunkern. Etwa die Hälfte aller Betriebe im Maschinenbau will laut einer Umfrage des Maschinenbauverbandes VDMA ihre Konten weiter hochfahren. 

Lassen die meisten Betriebe ihre Mitarbeiter noch Zeitkonten bis maximal 200 Stunden aufbauen, gehen einige nun weit darüber hinaus. So hat der schwäbische Werkzeugmaschinenbauer Trumpf im Frühjahr ein neues Bündnis für Arbeit mit Betriebsrat und IG Metall abgeschlossen, nach welchem die Arbeitszeitkonten bis auf 350 Stunden aufgefüllt werden können. Zuvor lag die Grenze bei 250 Stunden.

Außerordentlich sorgt inzwischen der Schweizer Oerlikon-Konzern vor. Die eben noch krisengeschüttelten deutschen Betriebe der Textilsparte machen Zeitguthaben von 600 Stunden möglich. Der Textilmaschinenbauer hat in einzelnen Produktlinien Schwankungen beim Auftragseingang von über 40 Prozent von einem Jahr zum nächsten. Flexibler als alle anderen jongliert jedoch Bernhard Helbing, Chef und Gründer des thüringischen Fensterbauers TMP, mit den Arbeitsstunden.

Die Beschäftigten des Familienunternehmens können ihre Guthaben bis zu 800 Stunden hochfahren und 100 Stunden Zeitschulden anhäufen. Fast alle Mitarbeiter in der Produktion haben einen Arbeitsvertrag mit Viertagewoche. Helbing hat diese Modelle schon vor 18 Jahren in der 240-Personen-Firma eingeführt und ist damit auch für die nächste mögliche Krise gewappnet.. „Wir hatten hier in Thüringen in der Baubranche schon in den Neunzigerjahren erhebliche Schwankungen“, sagt Helbing, „das war für uns eine ganz wichtige Frage.“

Superpuffer Zeitarbeit

Die Gewerkschaften hassen sie – doch sie wächst und wächst: die Zeitarbeit, auch Leiharbeit genannt. In der Krise galt sie als beliebtes Mittel, die Auswirkungen der Auftragseinbrüche zu dämpfen. Damals verloren von Juli 2008 bis zum Tiefststand im April 2009 fast 250.000 Zeitarbeiter von 823.000 ihre Jobs.

Damit war die Zeitarbeit einer der wichtigsten Personalflexiblisierer und -puffer in der Krise, und wird es im nächsten Abschwung noch viel mehr sein. Denn die deutsche Industrie fährt die Zahl der Leiharbeiter signifikant hoch. „Wir beobachten, dass die Unternehmen die Leiharbeit seit einigen Monaten heftig ausweiten“, sagt Jörg Köhlinger, Bezirkssekretär der IG Metall in Frankfurt. Rund zwei Drittel der Neueinstellungen in seinem Bezirk seien Leiharbeitsverhältnisse. Mit rund 870.000 Arbeitskräften arbeitet die Branche derzeit auf einem neuen Höchststand.

Lieferzeiten deutscher Autobauer für ausgewählte Modelle

Vor allem die Autoindustrie baut mit Blick auf kommende Abschwünge zunehmend auf Zeitarbeit. Gab es 2010 noch 18.000 Zeitarbeiter in der deutschen Autoindustrie, sind es im laufenden Jahr bereits 50.000 – ein Anstieg um 178 Prozent. Die Zahl der fest angestellten Mitarbeiter wuchs im gleichen Zeitraum nur um 1,3 Prozent.

Die Zeitarbeitsbranche hat sich inzwischen darauf eingestellt, wichtigster Krisendoktor der Autoindustrie zu sein. 2009 entfielen bei den zehn größten Zeitarbeitsfirmen in Deutschland noch 13,4 Prozent des Umsatzes auf die Autobranche. Im vergangenen Jahr stieg der Anteil auf 15,8 Prozent und 2011 rechnen die Zeitarbeitsfirmen sogar mit 18,4 Prozent, wie aus einer Studie der Marktforschung Lünendonk hervorgeht. 

Natürlich verlagert sich damit die Last künftiger Krisen auf die Zeitarbeitsbranche und ihre Beschäftigten. Allerdings können bis März 2012 auch die Verleiher das Instrument der Kurzarbeit nutzen. „Eine Nachfolgereglung wäre mit Blick auf den Arbeitsmarkt absolut wünschenswert“, meint Marcel Pelzer vom drittgrößten hiesigen Arbeitskräfteverleiher Manpower. Denn dann würde eine so massive Entlassungswelle, wie sie die Zeitarbeitsbranche 2009 erlebte, in der nächsten Krise wohl milder ausfallen.

Wichtigster Vorteil der Kurzarbeit für Leiharbeitnehmer: Wenn die Betriebe, in denen sie gerade eingesetzt sind, kurz arbeiten, können sie das ebenfalls tun – sonst schicken diese die Leiharbeiter meist zurück zum Zeitarbeitsbetrieb. Und weil die sich schwer tun, in einer massiven Krise wie der letzten Ersatzjobs zu finden, droht die betriebsbedingte Kündigung. Manpower-Manager Pelzer nutzte die neue Regelung 2009 und 2010 für rund 1500 Mitarbeiter.

Mit der Verlängerung der Kurzarbeit für die Verleihbranche könnte das Instrument Zeitarbeit für die Unternehmen noch interessanter werden, weil der Vorwurf, sie beschäftigten die Leiharbeiter als Mitarbeiter zweiter Klasse, zumindest zum Teil entkräftet wird.

Pralle Auftragspolster

Bis die Unternehmen tatsächlich Leiharbeiter abbauen, wird des jedoch noch einige Zeit dauern. Denn die Auftragsbücher in den meisten Branchen sind prall gefüllt. Auftragsreichweiten von mehr als sechs Monaten sind keine Seltenheit. Auf den Geländewagen Audi Q7 müssen die Kunden bis zu vierzehn Monate waren. Selbst für den Kleinwagen Polo von Volkswagen dürfen sich die Kunden mehr als ein halbes Jahr gedulden.

Den Rekord bricht Porsche. Der Stuttgarter Sportwagenbauer muss so viel Bestellungen abarbeiten wie noch nie. Aber auch der Maschinenbau schiebt Arbeit und Umsatz vor sich her. „Für 2011 sehen wir derzeit keine Risiken – wir haben derzeit den höchsten Auftragsbestand in der gesamten Porsche-Geschichte“, sagt Vertriebschef Bernhard Maier. Wegen der „extrem langen“ Lieferzeiten werde Porsche 2012 seine Produktionskapazitäten in Stuttgart und Leipzig ausbauen. „Porsche steht mittendrin in einer Vorwärtsstrategie“ und werde diese „unbeirrt“ fortsetzen.

Aber auch in anderen Branchen ist noch massenhaft zu tun, bevor es bergab ginge. Der Auftragsbestand des schwäbischen Maschinenbauers Hermle hat sich seit dem Jahreswechsel auf 91,4 Millionen Euro verdreifacht und reicht damit ins kommende Jahr hinein. Vom viel beschworenen Einbruch der Aufträge spürt Hermle nichts. Der Auftragseingang hat sich im ersten Halbjahr verdoppelt, eine Verlangsamung zeichnet sich noch nicht ab. Oerlikon ist in Teilbereichen bis 2014 ausgelastet.

Niedrigere Gewinnschwelle

Vor allem die Chemieindustrie hat in der Flaute gelernt, trotz gedrosselter Produktion schöne Gewinne zu machen. Im Rückblick kann der ehemalige BASF-Vorstandschef Jürgen Hambrecht der Finanzkrise sogar positive Seiten abgewinnen: „Das war eine tolle Zeit.“ Denn das Chemieunternehmen hatte gezeigt, dass es auch unter schwierigsten Bedingungen gegensteuern kann. Der Konzern legte 2008 vorübergehend rund 80 Anlagen still. Die Kapazitäten wurden vielfach deutlich verringert. Das war nicht einfach, denn in der chemischen Verbundproduktion hängt eine Anlage von der anderen ab.

Auch der Leverkusener Konkurrent Lanxess hat dieses Kunststück geschafft.„Unsere Margen sind selbst im Krisenjahr nur minimal gefallen“, sagt Lanxess-Chef Axel Heitmann, „das zeigt, dass wir in der Lage sind, die Gewinnschwelle durch flexibles Anlagenmanagement schnell zu senken, wenn dies erforderlich ist.“

Wie Lanxess senkten viele Unternehmen ihre Gewinnschwelle und sind nun in der Lage, bei niedrigerem Umsatz rentabel zu arbeiten oder weniger Verluste zu machen. So konnte der Druckmaschinenbauer Heidelberg seine Gewinnschwelle von über drei Milliarden Euro Umsatz auf 2,5 Milliarden Euro absenken. Deshalb konnte Heidelberg-Chef Bernhard Schreier nach mehreren Minusjahren wieder einen kleinen operativen Gewinn melden.

Konzentration auf Stärken

Viele Unternehmen gehen gekräftigt in eine mögliche neue Krise, weil sie sich von Problem- oder Randsparten getrennt haben, die nicht zum Geschäft passten. Siemens-Chef Peter Löscher etwa konzentrierte sich auf die Felder Industrie, Energie und Gesundheit, verkaufte 2008 weitgehend die Reste der Telekommunikation, die einst größter Umsatzbringer im Konzern war. Und mit dem im Herbst geplanten Börsengang der Lichttechniktochter Osram will sich der Siemens-Chef eines hart umkämpften Geschäftsfeldes entledigen, in das er aufgrund des Technologiewandels enorm investieren müsste.

Auch der Chipproduzent Infineon steht anders da als vor drei Jahren. Konzernchef Peter Bauer verkaufte das zuletzt boomenden Mobilfunkgeschäft an Intel für 1,1 Milliarden Euro bar. Dadurch traf er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: zum einen verfügt Infineon jetzt über ein nervenschonendes Finanzpolster von 2,6 Milliarden Euro. Das dürfte es dem konjunktursensiblen Unternehmen ermöglichen, auch längere Durststrecken zu bewältigen. Gleichzeitig ist Bauer seine wettbewerbs- und kostenintensivste Sparte los.

Milliarden in Petto

Selten sind Deutschlands Unternehmen mit einem so dicken finanziellen Polster in die Krise gegangen wie heute. Auch im Mittelstand ist die Eigenkapitaldecke reichlich bemessen. „Die Eigenkapitalquote hat sich bei den kleinen und mittleren Unternehmen in den vergangenen Jahren stetig verbessert, auch in der Krise“, sagt Volker Ulbricht, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsauskunftei Creditreform. Die Eigenkapital-Quote ist um 30,6 Prozent auf 35,6 Prozent gestiegen. Gewinne wurden einbehalten, frisches Eigenkapital zugeführt. „Insbesondere die Kleinen und mittleren Unternehmen gehen stark wie nie in die Krise“, sagt Ulbricht.

Aber auch die Großen stehen so gut wie nie zuvor da. Ein Drittel der deutschen Top-100-Unternehmen haben nicht nur genug Eigenkapital, sondern darüber hinaus eine negative Nettoverschuldung, also liquide Mittel und Bargeld übrig.

Dermaßen gut gerüstet, werden deutsche Unternehmen vielleicht sogar noch mehr zu Angstgegnern ihrer ausländischen Konkurrenten als zu Leidtragenden der nächsten Krise. Maßvolle Lohnpolitik, flexible Arbeitszeitmodelle, satte Auftragspolster, starke Bilanzen, Fokussierung auf gewinnträchtige Geschäfte – Deutschlands Industrie ist seit der Krise 2008/09 noch weiter nach vorn gefahren.

„Der Abstand zu den internationalen Wettbewerbern“, sagt Christian Schuh von A.T. Kearney, „hat sich sogar noch vergrößert.“

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