Es ist Tradition. Jedes Jahr am Silvesterabend schütten zahllose Familien in Deutschland flüssiges Blei in kaltes Wasser. Anhand der entstehenden Figuren wollen sie einen Blick auf die Ereignisse des kommenden Jahres werfen.
Die Wahrscheinlichkeit, damit die entscheidenden Wendepunkte der kommenden zwölf Monate vorherzusehen, ist freilich äußerst gering. Eine korrekte Prognose für das Verhalten der Börsen und Anleihemärkte 2013 ist ähnlich unwahrscheinlich. Gerade in Krisenzeiten wie diesen sind korrekte Vorhersagen schwierig.
Realistische Vorhersagen
Trotzdem wagen alle Jahre wieder zahlreiche Anlageexperten einen Blick in die Glaskugel und verkünden ihre Erwartungen an Dax, Dow Jones und Co. Wie dünn das Eis ist, auf dem sie sich bewegen, zeigt die dänische Saxobank. Jedes Jahr erstellen die Investment-Experten zehn provokante Thesen für das kommende Anlagejahr. Auf den ersten Blick scheinen die zwar unwahrscheinlich, sind aber weit weniger abwegig, als es der erste Eindruck Glauben macht.
Für 2012 prophezeiten die Dänen beispielsweise einen Einbruch der Apple-Aktie. Satte 50 Prozent sollte das Papier gegenüber seinem Höchststand von 2011 verlieren. Grund sei die wachsende Konkurrenz von Samsung, Google und Co. Von einem derartigen Einbruch blieben die Kalifornier zwar verschont, denn die Aktie kletterte auch 2012 munter weiter auf immer neue Höchststände. Innerhalb der letzten drei Monate ist das Papier aber immerhin um mehr als 25 Prozent eingebrochen – es gibt nicht wenige, die meinen, der Vorzeigekonzern hätte seine besten Zeiten hinter sich.
Relevante Gedankenspiele
Auch für 2013 spielt die Saxobank "mögliche, meist sehr negative Ereignisse durch, die die Finanzmärkte sowie den politischen Status quo grundlegend verändern würden", sagt Steen Jakobsen, Chefvolkswirt bei der Bank. Zwar handle es sich dabei nicht um offizielle Prognosen, sondern eher um Gedankenspiele. Dennoch könnten sie laut Jakobsen für Investoren relevant sein.
Das stimmt, denn gleich die erste These hätte für deutsche Anleger möglicherweise fatale Konsequenzen. Die Dänen befürchten, der Dax könnte im Laufe des Jahres wieder auf 5000 Punkte absinken, das wäre ein Verlust von 33 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nicht nur die sinkenden Popularitätswerte von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Wahl im September, auch die schwächelnde Konjunktur Chinas könnten den Leitindex in den Augen der Saxobank auf Talfahrt schicken.
Gemischte Erwartungen an die Aktienmärkte
Ähnlich kritisch sieht der berühmte Investmentexperte Marc Faber die Entwicklung der Märkte. Erst im vergangenen Monat prognostizierte er in der WirtschaftsWoche abstürzende Börsen. Der Schweizer rechnet im nächsten Jahr nur mit einem schwachen Wachstum für die Weltwirtschaft, wenn überhaupt. Das dürfte die Gewinne der Unternehmen schmälern, vor allem der amerikanische Aktienindex S&P 500 dürfte laut Faber um mindestens 20 Prozent einbrechen.
Auch die Investmentgesellschaft Pimco erwartet Gegenwind für den weltweiten Aktienmarkt, da das schwache Marktumfeld auf die Gewinne drückt. Einer, der sich auskennen müsste mit Prognosen, sieht das anders. Max Otte präsentiert sich der Öffentlichkeit gerne in der Rolle des Propheten, seit er mit seinem 2006 veröffentlichten Buch "Der Crash kommt" die Wirtschaftskrise vorhersagte. "Die Erholung bei Aktien könnte sich fortsetzen, weil die meisten dieser Märkte auf ein sehr niedriges Niveau abgestürzt waren", sagt der Ökonom. Dies gelte insbesondere für europäische Aktien.
Europäische Aktien sind unterbewertet
"Man muss in Aktien gehen!"
Otte ist nicht der einzige Anhänger europäischer Aktien. Vor allem im Vergleich zu amerikanischen Papieren seien die europäischen deutlich günstiger bewertet, schreiben Analysten von Morgan Stanley in einer Studie. Ähnlich sehen das auch die Experten von Allianz Global Investors. Lange rechneten Investoren damit, dass die Euro-Zone über kurz oder lang auseinander brechen würde und hielten sich dementsprechend mit Investitionen in europäische Aktien zurück. Diese Angst hat sich dank des großzügigen Eingreifens der Europäischen Zentralbank (EZB) - die Notenbank hat angekündigt, unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, wenn ein Land unter den Rettungsschirm schlüpft - mittlerweile allerdings verflüchtigt. Dennoch sind die europäischen Papiere in vielen Portfolios noch untergewichtet.
Nicht wahllos kaufen
Wer aber Renditen erwirtschaften will, sollte trotzdem nicht wahllos alles kaufen, was sich in Europa an den Märkten tummelt. "Besonders interessant sind multinationale Unternehmen mit robusten Geschäftsmodellen und gesunden Bilanzen", sagt Matt Siddle, Fondsmanager des amerikanischen Vermögensverwalters Fidelity. Die seien gut positioniert, um vom Konsumhunger der Emerging Markets profitieren zu können. Wer Sicherheit will, kommt also um solide Unternehmen nicht herum. Die Dividendenstrategie, bei der Anleger auf Unternehmen mit hohen, stabilen Dividenden setzen, bleibt attraktiv.
Auch DWS, die Fondsgesellschaft der Deutschen Bank, sieht solide Unternehmen auf dem Vormarsch. Dazu gehören unter anderem der Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé, der Chemieriese BASF oder der Technologiekonzern Linde.
Konjunktur ist Zünglein an der Waage
Entscheidend für die Entwicklung der Märkte wird aber einmal mehr der Konjunkturverlauf sein. Und der liegt, zumindest in Europa, immer mehr in den Händen der Politik. "2013 wird das Jahr der politischen Entscheidungen", erwartet die Investmentgesellschaft Pimco. Die meisten Experten rechnen weiterhin mit niedrigen Leitzinsen in Europa. Analysten von DWS und Pimco gehen sogar davon aus, dass der EZB-Rat um Mario Draghi den Zins noch einmal von aktuell 0,75 auf 0,5 Prozent senken wird – dadurch könnten sich Europas Banken noch günstiger Geld bei der EZB leihen. "Wir gehen jedoch nicht davon aus, dass eine weitere Senkung der Leitzinsen einen maßgeblichen Einfluss auf die Konjunktur haben wird", sagt Andrew Bosomworth, der bei Pimco das deutsche Portfoliomanagement leitet.
Sag, wie hälst Du’s mit dem Wachstum?
Weiter auseinander gehen die Meinungen bei den Wachstumsprognosen. Während Pimco weiterhin mit einer Rezession in Europa rechnet – die Wirtschaft der Euro-Zone dürfte um bis zu 1,5 Prozent schrumpfen – glaubt die DWS, Europa habe das Schlimmste hinter sich: "Europa verlässt die Intensivstation" schreiben die Experten. Auch das Wirtschaftswachstum der USA wird tendenziell eher etwas schwächer erwartet. Obwohl die größte Volkswirtschaft der Welt die drohende Fiskalklippe womöglich umschifft, werden niedrigere Wachstumsraten erwartet. Notwendige Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen dürften das Wachstum ausbremsen, schreibt Fidelity-Fondsmanager Adrian Brass in einer Analyse. Ähnlich sieht das Andrew Bosomworth von Pimco. Das Fortbestehen gegenwärtiger Wachstumstrends sei nur möglich, wenn der Übergang von einem staatlich geförderten zu einem privatwirtschaftlich getriebenen Wachstum gelingt, bevor die öffentlichen Haushalte die angehäufte Schuldenlast nicht mehr tragen könnten, so Bosomworth.
Einigkeit bei Repression
Mindestens in einem Punkt sind sich aber alle einig: Die größte Herausforderung für das Geldanlagejahr 2013 bleibt die finanzielle Repression. Damit bezeichnen Ökonomen Maßnahmen, die die Finanzierungskosten für Staaten senken sollen. Beispielsweise, wenn der Staat die Zinsen künstlich niedrig hält. Seit Beginn der Euro-Schuldenkrise sind etwa die Zinsen für deutsche Staatsanleihen auf immer neue Tiefstände gesunken. Oft geht eine solche Niedrigzinsphase mit kaum spürbarer Inflation einher. Das macht es für Anleger schwer, überhaupt reale Renditen zu erzielen. Überschuldete Staaten dagegen können sich auf diese Weise sanft entschulden, denn die leichte Inflation frisst langsam aber sicher den Schuldenberg auf und die niedrigen Zinsen senken die Belastungen aus neuen Schulden.
"Es wird zunehmend zur Herausforderung, in einem Umfeld mit niedrigen bis negativen Realzinsen eine attraktive Rendite zu erwirtschaften", sagt Pimco-Manager Bosomworth. Ähnlich sieht das Krisen-Prophet Otte. "Anleger stehen vor der Herausforderung, die finanzielle Repression ernst zu nehmen und statt in Geldanlagen und Immobilien auch in Aktien zu investieren", sagt Otte.
Anleihen bleiben attraktiv
Während Anleger ihre Investmententscheidungen bisher oft nach dem nominalen Ertrag getroffen haben, steht heute der reale Ertrag viel mehr im Zentrum. Bundesanleihen bleiben zwar weiterhin ein sicherer Hafen, bieten aber auch nur eine mickrige Rendite. Allianz Global Investors zieht daher unter Ertragsgesichtspunkten auch 2013 Unternehmensanleihen den Staatsanleihen vor. Gegenüber Aktien bieten allerdings beide in der Regel niedrigere Renditen.
Insgesamt bleiben Anleihen aufgrund der stark schwankenden Finanzmärkte auch 2013 weiter attraktiv. Einige Anleger fürchten deshalb bereits eine Blasenbildung am Anleihemarkt. Andrew Wells von Fidelity rechnet damit allerdings noch nicht. "Dafür bedarf es erst einer deutlichen weltweiten Erholung des Wirtschaftswachstums, in dessen Folge die Zinsen steigen, um die Aussichten für Anleihen zu trüben", sagt der Experte. Für 2013 sei dieses Szenario noch nicht erwartet.
Saxobank prognostiziert sinkenden Goldpreis
Auch in anderen Anlagebereichen dürfte es erst wieder richtig spannend werden, wenn die Zinsen merklich ansteigen. Beispiel Rohstoffe: Da ihre Kurse oft bei niedrigen oder negativen Realzinsen steigen, dürften sie auch weiterhin profitieren. Eugen Weinberg, Rohstoffexperte der Commerzbank, sieht etwa den Goldpreis erst wieder fallen, wenn die Realzinsen wieder positiv sind. Eigentlich ist es da wenig verwunderlich, dass eine der provokanten Thesen der Saxobank einen sinkenden Goldpreis vorhersagt. Der Aufschwung in den USA sowie eine schwächere physische Nachfrage aus Indien und China würden den Preis auf 1200 US-Dollar je Feinunze fallen lassen - von aktuell rund 1660 US-Dollar.
Spannung bei Immobilien
Spannend bleibt sicherlich die Entwicklung am Immobilienmarkt. Die niedrigen Zinsen werden Anleger weiterhin zu Betongold verführen, bald sind die Kapazitäten allerdings erschöpft. "Anleger werden weiterhin in Immobilien drängen, die sie als sicheren Hafen sehen", sagt Max Otte. Der Ökonom sieht in einigen Regionen wie München schon den Beginn einer Blasenbildung. Auch in anderen gefragten Städten wie Hamburg, Frankfurt oder Düsseldorf wird es gerade für Studenten und Geringverdiener immer schwerer, bezahlbaren Wohnraum zu finden.
Immobilien, Aktien oder Anleihen - vermutlich werden erst die Jahresrückblicke im Dezember 2013 zeigen, welche Prognose fundierter war als schlichtes Bleigießen. Fest scheint bisher nur eins zu stehen: Der dank Niedrigzinsphase fast unmöglich gewordene Drahtseilakt zwischen Sicherheit und hohen Renditen ist für Anleger noch längst nicht vorbei. In diesem Sinne allen Anlegern einen guten Rutsch ins neue Börsenjahr.