Hackernetzwerk Wie Anonymous Scientology in die Knie zwang

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Keylogger auf Sektenrechner

Im Fall des Angriffs auf Scientology.org sandte 4chan die Nachricht „DDOS BY EBAUMSWORLD“ („Ein DDoS-Angriff von eBaum’s World“) an die Sektenserver, was teilweise ein Running Gag ständiger Rivalität mit der zahmeren Konkurrenz war. Als die Angreifer angefangen hatten, Scientology.org mit Gigaloader heimzusuchen, schlug ein Nutzer als „Phase 2“ vor, /b/ solle eine Koderseite im Internet schaffen, die ein Video mit „Fakten über Scientology und was dahintersteckt“ zeigen wurde. Die /b/-User würden diese Seite dann mit der Filesharing-Seite Digg verlinken und das Video auf YouTube und YouPorn hochladen. In Phase 3 wurden dann die Mainstream-Medien wie Fox und CNN auf das Video aufmerksam werden, und die Scientology-Seite würde prompt eine Unterlassungsaufforderung an die auf der Koderseite zu lesende E-Mail-Adresse schicken. Dieses juristische Dokument wurde natürlich auch die Namen, Telefonnummern, Büroadressen und Faxnummern der Anwalte enthalten, welchen die /b/-Gemeinde daraufhin Telefonstreiche spielen, Bilder der Schock-Webseite Goatse faxen und bei „ihren Chefs Beschwerde einreichen sollte, dass er/sie eine Crackhure/ein Vergewaltiger/ein Nigger oder was immer ist“.

Mit dem Fortschreiten des Scientology-Threads auf /b/ wurden die Kommentare immer philosophischer. Jemand schrieb, dieser Raid diene vor allem der Selbsterhaltung. /b/ liege im Sterben. Die Seite sei hochnäsig geworden, vergraule Nutzer, die zu nerdig wirkten, und die Diskussionen wurden immer harmloser. „Die Gaiafags, die Furfags, alle Fags, die ihr rausgeworfen habt, wir müssen sie zurückholen, zu Tausenden, und dann zuschlagen“, hieß es in den Posts. „Das Drei-Phasen-Programm, das Anon gepostet hat, ist narrensicher, solange wir alle zusammenarbeiten.“ Ehemalige Gewohnheits-User, die sich enttäuscht von /b/ zurückgezogen hatten, wussten, dass die Seite das Potenzial hatte, mehr als bloß ein Imageboard zu sein und dem unsterblichen Fox-Zitat von der „Internet-Hassmaschine“ wirklich gerecht zu werden.

„Wir waren einmal eine wirkliche Macht“, erklärte ein anderer Veteran wehmütig. /b/ sei inzwischen voller Neulinge, die sich „sträubten und jammerten“, sowie ein neuer Raid vorgeschlagen werde. „Früher hatten sich die Leute die Gelegenheit zu massiven Lulz nicht entgehen lassen, die Opfer richtig geärgert und vielleicht noch etwas Gutes dabei bewirkt. Ich war einmal in einer Armee, die nicht einem Befehlshaber gehörte, sondern sich selbst.“ Ein weiterer Anon hatte inzwischen Phase 4 vorgeschlagen, die darin bestehen sollte, in das Computernetzwerk von Scientology einzudringen. „Das ist der Höhepunkt. Wer das fertigbringt, wird in den Augen von Anonymous als Gott gelten.“ Dazu musste man allerdings in eine echte ‚Kirche‘ der Sekte gehen, am besten in eine kleine, irgendwo in einer Kleinstadt, und dort von einem USB-Stick ein Keylogger-Programm auf den Rechner der Sekte installieren, das alle Tastatureingaben protokollierte. „Versucht unbedingt, hinter den Empfangstresen zu kommen“, hieß es in dem Vorschlag. „Lenkt die Leute ab, schleicht euch an die CPU unter dem Tisch heran, ladet den Keylogger und wartet ein oder zwei Tage. Dann kommt ihr wieder.“

Der Angriff zeigt Wirkung

Ungefähr eine Stunde und zehn Minuten nach dem ersten Ruf zu den Waffen war zu bemerken, dass die spontane DDoS-Attacke, auf die alle gehofft hatten, tatsachlich funktionierte. Der Gigaloader tat seine Arbeit. „Die Scientology-Seite lädt total langsam“, war auf /b/ zu lesen. Eine Seite, die sonst sofort zu sehen war, brauchte jetzt zwei Minuten, um sich aufzubauen.

„AUF GEHT’S FREUNDE“, tippte ein Anon. „IMMER SCHÖN GIGALOADEN!“ Die Atmosphäre war so hektisch, alles ging so überstürzt, dass nur in vier von Hunderten Posts überhaupt die Möglichkeit eines VPN oder anderer anonymisierender Tools erwähnt wurde, um beim Angriff die eigene IP-Adresse zu verstecken.

Gegen halb zehn Uhr abends hatte der Raid eine Kommt-alle-hier-rein-Stimmung angenommen. Jemand hatte die Adresse eines IRC-Chatrooms namens #raids gepostet, in dem sich jeder an einer ausführlichen Diskussion zur Planung der nächsten Schritte beteiligen konnte. Der Erstposter, der den Thread gestartet hatte, schuf dann noch einen neuen IRC-Kanal namens #xenu. In der Glaubenslehre der Scientologen war Xenu der Diktator der Galaktischen Konföderation, der vor etwa 75 Millionen Jahren die Menschen auf die Erde brachte, sie dann um verschiedene Vulkane herum aussetzte und mit Wasserstoffbomben umbrachte. Jetzt drängten sich Hunderte Nutzer in #xenu und dann in #target, wo selbst ernannte Planer weiterer Angriffe ihre Ziele vorschlagen konnten. Im #xenu-Chatroom redeten alle durcheinander darüber, was als Nächstes zu tun sei.

„HEY, /B/“, schrieb um 21.45 Uhr jemand auf 4chan. Der Anon behauptete, er habe „einen Haufen“ verwundbarer Stellen für XSS auf Scientology.org gefunden. XSS steht für Cross-Site Scripting und war angeblich die zweithäufigste Hackermethode nach der SQL-Injection. „ICH SEHE MAL ZU, WAS SICH DARAUS MACHEN LÄSST.“ Die Adresse des IRC-Kanals wurde mit Spam überschüttet. Es sah so aus, als komme der Thread langsam an sein Ende, und einige Nutzer posteten, was ihnen das wichtigste Ergebnis der Chatroom- Diskussionen schien: Man solle sich das Datum 20. Januar merken. „Es wird was passieren.“

Pizza und schwarze Faxe für Scientology

Der Thread hatte in ungefähr drei Stunden fünfhundertvierzehn Beitrage gesammelt. Die Stimmung war aufgeheizt; im drittletzten Post wurde vermutet, dass sich etwa zweihundert Nutzer an der Diskussion beteiligt hatten. Die Scientology-Zentren weltweit bekamen inzwischen bereits erste Telefonstreiche, schwarze Faxe (um die Tintenpatronen der Faxgeräte zu leeren), unbestellte Pizzalieferungen und nicht angeforderte Taxis zu spüren. Die Hauptwebseite brauchte ziemlich lange, um sich aufzubauen.

Am nächsten Tag, dem 16. Januar, richtete jemand, der den Spitznamen Weatherman benutzte, eine Seite in der Encyclopedia Dramatica ein, deren Wahlspruch bezeichnenderweise „In lulz we trust“ lautete. Diese Seite enthielt eine Kriegserklärung an die Scientology-Sekte. Um 17.47 Uhr Ostküstenzeit meldete sich dann die Erstposterin, die den Chan-Raid gegen Scientology vorgeschlagen hatte, gratulierte den begeisterten Mitkampfern auf /b/ und stimmte sie auf dramatischere Aktionen ein. „Seit dem 15.01.08 tobt der Krieg. Die Scientology-Webseite liegt bereits im Bombenhagel“, schrieb die OP. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs, der erste von vielen Angriffen. Aber ohne die Unterstützung der Chans wird Scientology diese Attacke einfach abschütteln. 4chan, zu den Waffen! Wir müssen diese üble Sekte zerstören und sie durch eine noch üblere ersetzen – Chanology!“

Die Portmanteau-Bildung aus „Chan“ und „Scientology“ bezeichnete eine Wende im Verhältnis der verschiedenen Imageboard-Foren zueinander. Ihre jeweiligen Schlachten gegen Pädophile, MySpace-User und natürlich gegeneinander wurden durch den gemeinsamen Kampf aller zusammen gegen eine größere Organisation abgelöst. Scientology war eigentlich eine seltsame Zielauswahl – bis jetzt hatten die meisten User der Chans diese Gruppe vermutlich nur als durchgeknallte Sekte mit einigen prominenten Anhängern gekannt. Plötzlich war sie das größte Ziel, an das sich Anonymous je herangewagt hatte (2008 hatte die Sekte in den USA landesweit etwa 25.000 Mitglieder) und für dessen Bekämpfung die Gruppe bis jetzt die meisten Mitstreiter hatte gewinnen können. Niemand, auch nicht die Erstposterin, wusste, wie es ausgehen würde und ob es sich um eine einmalige Aktion oder um einen Schritt nach vorne aus der kreativen Anarchie des Internets heraus handelte.

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