Konjunkturprognose der Wirtschaftsweisen „Eine herausfordernde Lage mit Blick auf die Inflation“

Veronika Grimm lehrt VWL an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie ist eine von derzeit vier Wirtschaftsweisen und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Quelle: imago images

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm über die konjunkturellen Folgen des Ukraine-Krieges, Gefahren eines Gasboykotts, unkluge Spritpreisrabatte – und die Signalwirkung eines Tempolimits.

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WirtschaftsWoche: Frau Grimm, in der Ukraine tobt der Krieg, es droht ein russischer Gasboykott, China riegelt wegen Corona Millionenmetropolen wie Shanghai ab, die Inflation markiert Rekordhöhen, die Stimmung in Unternehmen und bei Verbrauchern kippt: War die Konjunkturprognose, die Sie heute mit den Wirtschaftsweisen vorlegen, die schwierigste aller Zeiten?
Veronika Grimm: Die Unsicherheit ist massiv, ohne Zweifel, und sie wächst von Tag zu Tag. Trotzdem haben wir uns zu einer Punktprognose entschlossen – denn auch Szenarien, die wir alternativ hätten durchrechnen können, wären hochgradig spekulativ gewesen.

Also dann: Was erwarten Sie konjunkturell für dieses und kommendes Jahr?
Wir korrigieren unsere Herbstprognose aus dem Jahr 2021 drastisch nach unten. Wir erwarten für dieses Jahr nur noch ein Wachstum von 1,8 Prozent, 2023 dann 3,6 Prozent – und das bei Inflationsraten von 6,1 Prozent im laufenden und 3,4 Prozent im kommenden Jahr.

1,8 Prozent Mini-Wachstum bei mehr als sechs Prozent Geldentwertung – ist das schon Stagflation?
Das noch nicht – aber eine herausfordernde Lage mit Blick auf die Inflation. Die Energiepreise bleiben hoch, Düngemittel werden teurer, Agrarexporte aus Russland und der Ukraine werden ausbleiben, in der Folge steigen die Lebensmittelpreise. Die Reallöhne sind spürbar gesunken. In den anstehenden Tarifverhandlungen wird man auf Kompensation dringen. Lohndruck kommt auch durch den Fachkräftemangel und die Erhöhung des Mindestlohnes: Das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ist daher deutlich gestiegen.

Zur Person

Und diese trüben Aussichten basieren sogar noch auf der vergleichsweise optimistischen Annahme, dass weder Putin uns das Gas abdreht oder wir diese Sanktion ziehen – noch, dass China als Wachstumsmotor ausfällt, richtig?
So ist es.

Wirtschaftsminister Robert Habeck hat heute morgen die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Welche Folgen hätte ein Stopp der russischen Energielieferungen?
Wir analysieren das in unserem Frühjahrsgutachten sehr ausführlich, das ist schon fast ein kleines Sondergutachten. Die Kurzfassung: Käme es zum Stopp, dann gäbe es eine Rezession, vielleicht sogar vom Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie.

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Liegt die Bundesregierung also richtig, wenn sie diesen Schritt nicht selbst wagen, eine Wirtschaftskrise nicht riskieren will?
Das Ziel der Maßnahmen muss es aktuell sein, die weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern. Zu diesem Zweck könnte es beitragen, die immensen Zahlungen einzustellen, die Russland für seine Energielieferungen erhält. Seit Beginn des Krieges allein hat die Europäische Union 20 Milliarden Euro nach Russland überwiesen. Diese Mittel erlauben es dem Regime Putins, die Wirkung der Sanktionen abzumildern – zum Beispiel, indem der Kurs des Rubels gestützt wird und Importe bezahlt werden.

Nochmal: Sollte die Bundesregierung, sollte der Westen selbst dieses Zeichen setzen, auch wenn es schmerzt?
Es ist kein „Zeichen“, sondern die Vertretung unserer Interessen, wenn wir die Möglichkeiten Putins einschränken, den Konflikt auszuweiten. Ohne Frieden und Stabilität wird der Wohlstand in Europa sinken. Das schadet uns am Ende allen.

Die Bundesregierung plant ja, die Abhängigkeit schnellstmöglich zu reduzieren.
Strategisch ist ein unmittelbarer Stopp der Zahlungen ganz anders einzuordnen, als der mittelfristige Verzicht auf die Lieferungen. Wir können jetzt die Zahlungen an Russland einstellen. Da die Devisenreserven in der Zentralbank eingefroren sind, hätte das Regime dann extrem eingeschränkte Möglichkeiten. Wenn wir erst 2024 auf Gas aus Russland verzichten, so wie das derzeit der Plan der Bundesregierung ist, wird Moskau das weniger schrecken.

Warum?
Man würde gemeinsam mit China die Anstrengungen erhöhen, Pipelines auszubauen. Diese Röhren würden die Gasfelder, aus denen auch wir beliefert werden, an Asien anbinden.

Sie sind also Teil des Teams Boykott. Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Kanzler, auch Kolleginnen und Kollegen von Ihnen zeichnen in diesem Ernstfall der Fälle hingegen eine beispiellose Rezession, ja: Depression an die Wand.
Ein Boykott würde uns vor Herausforderungen stellen, keine Frage. Aber eine Ausweitung der Eskalation, möglicherweise auf andere Regionen in Europa wäre auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung noch schlimmer. Übrigens: Vorbereiten müssen wir uns auf einen Lieferstopp ohnehin, denn auch Russland kann sich dazu entschließen.

Was meinen Sie konkret?
Es braucht beispielsweise eine Kraftanstrengung im Bereich Energieeffizienz, um möglichst umfangreich Gas einzusparen. Das Potenzial ist riesig, die Sensibilität Energie einzusparen dürfte aktuell hoch sein. Wir müssen außerdem Gas einsparen, indem wir vorübergehend mehr Kohlekraftwerke einsetzen. Und wir müssen Gas auf dem Weltmarkt beschaffen, um einen Teil der russischen Lieferungen ersetzen zu können, falls sie wegfallen sollten.

von Jannik Deters, Max Haerder, Dieter Schnaas, Cordula Tutt

Kann der Bundeshaushalt aus Ihrer Sicht ab 2023 wieder die Schuldenbremse erfüllen?
Falls es zu einem Lieferstopp kommt, so werden fiskalische Spielräume genutzt werden müssen, um die Härten abzufedern.

Die Ampel hat gerade erst ein zweites Entlastungspaket in Höhe von rund 15 bis 20 Milliarden Euro geschnürt. Wie lange kann die öffentliche Hand noch den Anspruch aufrechterhalten, Bürger und Wirtschaft von fast allen Härten zu schützen?
Es war gerechtfertigt, niedrige und mittlere Einkommensgruppen zu entlasten. Auch die vergünstigten Bahntickets finde ich eine gute Idee, es sind alternative Mobilitätsangebote. Nicht zielführend ist die Senkung der Spritpreise. Das entlastet obere Einkommensgruppen stärker, konterkariert den Klimaschutz und verhindert die Nachfragereduktion bei fossilen Energieträgern, die wir so dringend brauchen.



Diese Schocks sollte man durchaus wirken lassen?
Wenn wir die Preise künstlich niedrig halten, dann halten wir die Nachfrage künstlich hoch. Im Fall eines Lieferstopps russischer Energieträger – der ja möglich ist – realisieren wir dann gerade nicht die so nötigen Einsparungen und stehen vor großen Herausforderungen. Wir löschen da Feuer mit Benzin.

Quelle: dpa

Die Brisanz der Lage soll ruhig bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen?
Ja, man hätte etwa ein Tempolimit einführen können, um wenigstens ein bisschen die Brisanz der Lage zu signalisieren. Die bevorstehende Transformation wird uns noch einiges abverlangen.

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Hinweis: Dieses Interview erschien zuerst am 30. März 2022

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