Migration Kellner? Konstrukteur!

Warum Migranten aus Osteuropa die Wirtschaft beflügeln, wenn Unternehmen sie nicht als Dumping-Kräfte missbrauchen.

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Die Fahne der Europäischen Union wehte 2004 als Willkommensgruß für Polen am Grenzübergang in Frankfurt (Oder). Die Angst vor Dumpinglöhner aus dem Osten halten Ökonomen bis heute für unbegründet. Quelle: handelsblatt.com

Petr Arnican hat geschafft, wovon seine Klienten träumen. Der Tscheche arbeitet in Deutschland und berät Landsleute, die, wie er, in der Bundesrepublik ihr Geld verdienen wollen. Dass sich der deutsche Arbeitsmarkt am 1. Mai weiter Richtung Osten geöffnet hat, bedeutet für Arnican, der ein Büro in Weiden nahe der bayerisch-tschechischen Grenze betreibt, mehr Arbeit: "Ich bekomme in letzter Zeit mehr Anfragen von Tschechen." Sie wollen wissen, wie sie mit Behörden klarkommen, wie sie ihre Familie versichern können, aber vor allem: Wie sie eine gut bezahlte Stelle finden. Arnican kann ihnen Antworten geben. Seit acht Jahren koordiniert der ehemalige Eishockeyprofi grenzüberschreitende Projekte.Aus Angst, polnische Klempner und tschechische Kellner könnten die Löhne drücken, stehen die Türen schlechter qualifizierten Arbeitnehmern aus den östlichen Nachbarländern, dem Baltikum, Ungarn, der Slowakei und Slowenien erst seit Monatsanfang offen: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit rechnet mit bis zu 140000 Zuwanderern.Einwanderer bei Jobs benachteiligtEine Chance für die Volkswirtschaft, sagen Ökonomen, die seit vielen Jahren erforschen, wie sich Zuwanderung auf Löhne, Wachstum und Arbeitslosigkeit auswirkt. Zwar könnte die Entlohnung in bestimmten Branchen unter Druck geraten. Aber, und das ist die gute Nachricht der Forscher, die deutsche Wirtschaft kann insgesamt profitieren, wenn sie die neuen Arbeitskräfte mit passenden Jobs versorgt und sie bei Bewerbungen nicht benachteiligt.

Links zu den Downloads der im Text zitierten Studien.

Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Ost-Erweiterung ein Glücksfall. Statt mit theoretischen Annahmen können die Forscher mit harten Fakten arbeiten. Beispiel Großbritannien und Irland, dort öffneten sich die Grenzen bereits 2004 vollständig, die größte Einwandererwelle aller Zeiten schwappte auf die Inseln. Heute leben dort rund eine Million Bürger aus den neuen EU-Staaten, die meisten stammen aus Polen.Ökonomen, die schon immer davon ausgingen, dass der Wohlstand steigt, wenn sich Arbeitnehmer grenzüberschreitend auf die richtigen Arbeitsplätze verteilen können, sehen sich bestätigt: "Irland und Großbritannien haben sehr von der Einwanderung profitiert", sagt IAB-Forscher Herbert Brücker. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt sei gestiegen, die meist jungen und arbeitswilligen Zuwanderer hätten den Sozialstaat entlastet.Der negative Nebeneffekt: Durch die wachsende Konkurrenz geraten die Löhne unter Druck. Stephen Nickell und Jumana Saleheen, Forscher an der London School of Economics and Political Science (LSE), haben für verschiedene Berufsgruppen ausgerechnet: Wenn der Immigrantenanteil um fünf Prozentpunkte steigt, sinkt der Lohn um durchschnittlich 0,2 Prozent. Geringqualifizierte sind besonders stark betroffen. Wächst der Migrantenanteil etwa unter Kellnern und Putzfrauen um zehn Prozentpunkte, nimmt die Bezahlung um 5,2 Prozent ab. Die Forscher begründen das damit, dass Immigranten für dieselbe Arbeit weniger als Einheimische bekommen - und sie dadurch die Löhne der Briten mit nach unten ziehen.Wie ausgeprägt die Ungleichbehandlung zwischen Einheimischen und Zuwanderern ist, zeigt eine Studie von Wissenschaftlern des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) und der Universitäten Surrey und Roehampton. Sie haben die Einstiegslöhne junger Ost-Einwanderer mit denen junger Briten verglichen: In den Jahren 2001 bis 2006 verdienten Neuankömmlinge 27 Prozent weniger. Zwar schnitten Migranten, die schon länger im Land sind, besser ab - vermutlich, weil sie Sprache und Kultur besser kennen.Doch offenbar gibt es immer noch unsichtbare Schranken auf dem Arbeitsmarkt, die Osteuropäer von bestimmten Berufen fernhalten: Weniger als zehn Prozent arbeiten als Fach- oder Führungskräfte - bei den anderen europäischen Migranten sind es 42 Prozent. Und das, obwohl zum Beispiel die Polen im Schnitt 20,3 Jahre Schule und Hochschule hinter sich haben, mehr als alle anderen Migranten.Die Zahlen lassen aus Ökonomensicht den Schluss zu: Das Potenzial der Einwanderer wird nicht voll ausgeschöpft. "Den Briten ist es nicht gelungen, die Arbeitnehmer entsprechend ihrer Qualifikation einzusetzen", kritisiert IAB-Forscher Brücker.Vermeiden deutsche Arbeitgeber diesen Fehler, können sie profitieren. Denn laut einer kürzlich erschienenen IAB-Studie ist in den Beitrittsländern bei den 25- bis 35-Jährigen, also bei den besonders mobilen Arbeitskräften, der Anteil der Ungelernten deutlich geringer als in Deutschland. Das sei "günstig für die wirtschaftliche Entwicklung", schreiben die Autoren.Doch auch hierzulande nutzen Arbeitgeber die Arbeitskraft der Einwanderer nicht optimal. "Auch wenn die Unternehmer den Fachkräftemangel beklagen, stellen sie meist doch lieber Deutsche ein", kritisiert Brücker. Wenn Deutschland von den offenen Grenzen profitieren wolle, müsse sich das ändern.Ökonomen fordern mehr Bildungsangebote, Stellenausschreibungen in den Landessprachen der Zuwanderer und eine offenere Unternehmenskultur. Sonst könnten die neuen Einwanderer tatsächlich die Löhne von Geringverdienern unter Druck setzen, weil sie in besser bezahlten Berufen keine Chance hätten. Große Einbrüche erwarten die Forscher jedoch nicht: Das IAB sagt voraus, dass die Löhne bis 2020 um maximal 0,4 Prozent sinken werden. Einige Gruppen, besonders die Migranten, die schon hier leben, könne es schlimmer treffen, so Brücker.Jobberater Petr Arnican erschrecken solche Prognosen nicht, er fühlt sich seit Jahren wohl in Deutschland: "Das passt scho", sagt der bayerische Tscheche.

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