Kann es sein, dass alle Kollegen Sie „nett“ finden? Dass jeder mit seinen Problemen zu Ihnen läuft? Dass Sie Geburtstage organisieren, Brückentage abtreten, Kaffee ausschenken? Würden Sie unterschreiben, dass Sie keine Feinde am Arbeitsplatz haben? Dann haben Ihre Feinde Sie! Denn so sicher, wie der Honig die Fliegen anzieht, locken Nette weniger Nette an, die sie ausnutzen und ausstechen.
Bei Beförderungen passiert es täglich: Der als „nett“ bekannte Kandidat wird übergangen, der streitbare macht das Rennen. Die Netten sind gerade recht, um im Alltag den Harmonie-Minister zu spielen. Sie dürfen schlichten, wenn sich andere in den Haaren haben. Sie dürfen ihren Kollegen lästige Arbeiten abnehmen und den Betriebsausflug organisieren. Und sie dürfen anderen jene Sorgen abnehmen, für die weniger nette Vorgesetzte sorgen.
Zur Person
Martin Wehrle ist Karriereberater, Gehaltscoach und Buchautor. Sein neuestes Buch „Sei einzig, nicht artig – So sagen Sie nie mehr Ja, wenn Sie Nein sagen wollen“ ist im Mosaik-Verlag erschienen.
Aber wenn Privilegien vergeben werden, stehen die Netten im Regen: Die Gehaltserhöhung wird ihnen verweigert, weil sie nicht energisch genug fordern, im Gegensatz zu anderen. Die interessante Dienstreise tritt jener Kollege an, der dafür einen Aufstand gemacht hat. Und den Chefsessel erobert wieder ein Typ mit harten Ellenbogen.
Nette Menschen bekommen eher Burnout
Immer noch werden Positionen und Gehaltserhöhungen nicht nach erbrachter, sondern nach behaupteter Leistung vergeben. Und während die Netten durch Bescheidenheit glänzen, üben sich die weniger Netten in Hochstapelei. Und während sich die Netten für andere ins Zeug legen, basteln die weniger Netten an ihrer eigenen Karriere.
„Soziale Kompetenz“ und „Teamfähigkeit“ werden von Firmen in Stellenausschreibungen gefordert, aber so gut wie nie belohnt. Wer als „nett“ gilt, wird oft als „harmlos“ gesehen, als Teamarbeiter statt Teamleiter. Schwierige Entscheidungen fällen? Abmahnungen schreiben? Verhandlungen führen? Die Vorgesetzten, oft Ellenbogen-Typen, trauen es dem Netten einfach nicht zu. Dabei übersehen sie großzügig, dass durch kooperative Arbeitsweise ein großer Teil jener Konflikte vermieden wird, die sie dann selbst mit dem Holzhammer lösen wollen.
Nette stecken viel ein: Sie bleiben höflich, wenn sie ausgenutzt werden. Sie sagen Ja, wenn Sie Nein meinen. Ihre eigenen Wünsche bleiben auf der Strecke, ihre Kraft lässt nach. Oft winkt eines Tages der Burnout, der aus gutem Grund vorzugsweise in sozialen Berufen vorbeischaut: Dort arbeiten überdurchschnittlich viele sozial eingestellte Menschen. Wer dauernd nett zu anderen ist, vergisst dabei leicht, nett zu sich selbst zu sein.
Helfen Sie nur denen, die auch Ihnen helfen
Rate ich Ihnen also, Ihre Nettigkeit an den Nagel zu hängen? Ja, wenn Sie es mit Menschen zu tun haben, die Sie eiskalt ausnutzen. Warum sollten Sie einem Kollegen Arbeiten abnehmen, der sich Ihre Leistung dann auf die eigene Fahne schreibt und nie etwas für Sie tut? Warum sollten Sie jemanden anlächeln, der sich dadurch eingeladen fühlt, seine schlechte Laune an Ihnen auszulassen? Und warum sollten Sie einen Chef mit Nettigkeit überschütten, etwa in einem Gehalts- oder Beförderungsgespräch, wenn er dieses Verhalten als „mangelnde Durchsetzungsfähigkeit“ deutet und Sie dafür über die Klinge springen lässt?
Dagegen ist es völlig in Ordnung, dass Sie jener Kollegin einen Kaffee kochen, die es auch für Sie tut. Oder dass Sie jenem Kollegen eine Arbeit abnehmen, der Sie auch bei Ihren Projekten unterstützt. Oder dass Sie sich die Sorgen eines Menschen anhören, der auch ein offenes Ohr für Sie hat.
Weshalb wir lieber "Ja" als "Nein" sagen
Sie sind schon wieder nicht vor neun Uhr abends zuhause? Das ist nicht Ihre Schuld. Schließlich haben die Kollegen Sie mit Arbeit bombardiert. Wer immer zu allem "Ja" sagt, hat weniger Verantwortung für sein Tun - und somit eine bequeme Ausrede.
Sie helfen bei jedem Umzug, passen ständig auf die Haustiere verreister Freunde auf, erledigen alle Extraarbeiten der Kollegen und gehen für den kranken Nachbarn einkaufen? Das dürfte Ihre Beliebtheit in Ihrem sozialen Umfeld enorm steigern. Leider nicht um Ihrer Selbst Willen...
Sie sind ein guter Mensch. So selbstlos und hilfsbereit. Das sehen sowohl Sie als auch die anderen so. Ohne Sie ginge es allen viel schlechter.
Letztlich ist es deutlich einfacher, "Ja" zu sagen. So müssen Sie nichts erklären und gehen Diskussionen aus dem Weg. Außerdem vermeiden Sie Schuldgefühle.
Am Arbeitsplatz gilt das Resonanz-Gesetz: Antworten Sie in derselben Sprache, in der Sie angesprochen werden. Wenn ein anderer die Sprache der Ruppigkeit spricht, wird er Ihre Nettigkeit garantiert missverstehen und Sie heimlich als „harmlosen Trottel“ abschreiben.
Darum: Fordern Sie gegenüber solchen Menschen, statt nur zu wünschen. Sagen Sie Nein, wenn Sie Nein meinen. Seien Sie einzig, nicht artig! Eine Mischung aus Nettigkeit und Biss verschafft Ihnen mehr Ansehen, mehr Erfolg und ein stimmigeres Arbeitsleben. Zeigen Sie gelegentlich Ihre Zähne – und zwar nicht nur beim Lächeln!
Dieser Artikel lehnt sich an Martin Wehrles neues Buch an „Sei einzig, nicht artig! – So sagen Sie nie mehr Ja, wenn Sie Nein sagen wollen“ (Mosaik, 384 Seiten, 14,99 Euro).