WirtschaftsWoche: Dame Shirley, Sie sind kürzlich 82 Jahre alt geworden. Aber Sie denken nicht daran, kürzerzutreten.
Wissen Sie, das hat nichts mit dem Alter zu tun. Ich war schon immer ein Workaholic. Ich brauche Projekte, sie geben meinem Leben einen Sinn. Ich wurde als kleines Mädchen vor den Nazis gerettet. Damals wurde mir bewusst, wie viel Glück ich hatte. Schon seit meiner Kindheit will ich beweisen, dass mein Leben es wert war, gerettet zu werden.
Das klingt, als hätten Sie Schuldgefühle.
Mich ließ der Gedanke nie los, was es für eine Verschwendung wäre, gerettet zu werden und dann später das ganze Leben zu vertrödeln.
Bewegendes Leben
Stephanie Shirley kam 1933 als Vera Stephanie Buchthal in Dortmund zur Welt. Ihre Eltern schickten sie als Fünfjährige im Kindertransport nach England, um sie vor der Deportation zu retten. 1962 gründete sie eine Softwarefirma, die unter dem Namen F International bekannt wurde. 2007 verkaufte Shirley ihr Unternehmen an die französische Steria-Gruppe, sie kassierte 150 Millionen Pfund. Seit 2001 trägt Shirley den Titel der Dame Commander des Order of the British Empire. Ihr Sohn Giles starb 1998, 2010 spendete sie 50 Millionen Pfund für wohltätige Zwecke.
Aber in den Fünfzigerjahren wäre es für eine Frau normal gewesen, nicht zu arbeiten.
Ja, aber ich habe schon früh meine Liebe zur Mathematik entdeckt. In der Schule musste ich kämpfen, um am Unterricht teilnehmen zu dürfen. Für ein Studium hatte ich kein Geld. Ich bin tagsüber arbeiten gegangen und habe nach Feierabend in der Abendschule Mathematik gepaukt. Die Küche war nie mein Reich.
Stattdessen landeten Sie als Programmiererin bei der britischen Post.
Das war eine aufregende Zeit. Es gab die ersten Versuche, Daten elektronisch zu verarbeiten. Und ich war mittendrin, zwischen all diesen Männern. Sie waren nett zu mir, aber sie nahmen mich nicht wirklich ernst. Ich hatte keine Möglichkeiten, aufzusteigen. Da kündigte ich.
Und taten das, was für eine Frau Anfang der Sechzigerjahre undenkbar war: Mit 29 Jahren gründeten Sie Ihre eigene Softwarefirma F International Group. Da wurden Steve Jobs und Bill Gates gerade eingeschult. Wie kam die britische Wirtschaftselite mit so viel weiblichem Selbstbewusstsein klar?
Sie haben mich ausgelacht und verspottet. Weil ich eine Frau war – und noch dazu Software verkaufen wollte. Dafür gab es damals noch keinen Markt, die Firmen verkauften nur Hardware und gaben Programme gratis dazu. Außerdem stellte ich lediglich weibliche Programmiererinnen ein. Viele von ihnen hatten Mühe, Kind und Job zu vereinen. Deshalb habe ich ihnen angeboten, im Home Office zu arbeiten. Um das Kindergeschrei zu übertönen, mussten sie bei Anrufen eine Kassette mit Bürogeräuschen laufen lassen.
Schwer vorstellbar, dass Sie mit dieser Firmenpolitik auch nur einen einzigen Kunden gewinnen konnten.
Niemand wollte mit mir, einer Frau, Geschäfte machen. Deshalb habe ich zu einem Trick gegriffen und den Briefkopf der Firma in „Steve“, der männlichen Form von Stephanie, geändert und fortan nur noch mit diesem Namen unterschrieben.
Nur als vermeintlicher Mann respektiert zu werden muss eine schmerzliche Erfahrung gewesen sein.
Es ist grausam, wenn man wegen seiner Hautfarbe, Sexualität oder des Geschlechts aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Persönlichkeiten wie Ada Lovelace, die im 19. Jahrhundert das erste Computerprogramm schrieb, oder „Harry Potter“-Autorin Joanne K. Rowling haben deshalb unter ihren Initialen veröffentlicht. Sie hatten keine Lust auf diese Vorurteile. Das gilt auch für mich. Egal, was für ein Geschlecht ich bin, in erster Linie bin ich ein Mensch. Was mich auszeichnet, sind meine Fähigkeiten und Qualifikationen.
Heute haben es Frauen leichter
Haben Frauen heutzutage größere Chancen auf Erfolg?
Ja, auf jeden Fall. Verglichen mit meiner Generation, haben es junge Frauen heute kinderleicht. Kein Gesetz diskriminiert sie, sie dürfen ein Bankkonto eröffnen und studieren, was sie möchten. Das ist ganz selbstverständlich, und so muss es auch sein. Ich möchte natürlich nicht bestreiten, dass es die gläserne Decke noch gibt – sie ist weiterhin sehr dick. Und unsere Kultur macht es Frauen immer noch schwer. Doch ich glaube auch, dass viele Frauen nicht wirklich Lust haben, für einen angemessenen Job zu kämpfen. Es enttäuscht mich, dass sie nur darüber reden, etwas zu tun, was ich schon vor 50 Jahren gemacht habe.
Woran machen Sie das fest?
Daran, dass viele Frauen sich davor scheuen, den Preis des Erfolgs zu bezahlen. Und der ist hoch, sowohl für die Familie als auch für die Gesundheit. Das will ich nicht verheimlichen. Ich hatte keine Zeit, um ins Theater zu gehen oder auf einer Yacht im Meer herumzuschippern. Doch entweder man glaubt an Gleichberechtigung – oder man lässt es.
Adas Erbinnen
Die britische Mathematikerin Ada Lovelace entwickelte Mitte des 19. Jahrhunderts das Programm für eine Rechenmaschine. Diese war ein früher Vorläufer moderner Computer. Daher gilt sie als Softwarepionierin – und ist Namenspatin des ersten Ada Lovelace Festivals, das am 27. und 28. Oktober in Berlin stattfindet. Expertinnen aus der IT-Branche diskutieren dort Branchentrends, Forschungsergebnisse und Erfolgsgeschichten von Frauen. Anmeldungen unter wiwo.konferenz.de/ada
Ihr Einsatz hat sich gelohnt, durch Ihre Softwarefirma wurden Sie zu einer der reichsten Frauen Englands. Haben die Männer Sie dadurch mehr respektiert?
Lassen Sie mich am besten mit einer Anekdote antworten. Als mein Unternehmen startete, meinten Männer zu mir: „Ganz interessant, aber es funktioniert doch nur, weil es so klein ist.“ Als die Firma wuchs, sagten sie: „Ganz nett, aber ohne strategische Bedeutung.“ Und später, als sie drei Milliarden Dollar wert war: „Gut gemacht, Steve.“ Wissen Sie, man erkennt ambitionierte Frauen an der Form ihres Kopfes: Der ist oben ganz platt vom gönnerhaften Tätscheln.
Hat sich das Ansehen der Frauen in der IT-Branche in den vergangenen 50 Jahren denn überhaupt nicht verändert?
Während des Zweiten Weltkriegs war das Programmieren Frauensache. Die Männer kämpften ja an der Front. Da mussten Frauen die Rolle der Programmiererin übernehmen. Dann kamen die Männer zurück, die Frauen verfielen wieder in ihre häusliche Rolle. Und heute habe ich das Gefühl, ist es gesellschaftlich zwar akzeptiert, dass Frauen diese Arbeit theoretisch tun könnten – aber nicht, dass sie es tatsächlich auch tun wollen.
Weil ihnen die Vorbilder fehlen?
Ja, natürlich. Es ist wichtig, dass junge Frauen, die künftig in der IT-Branche eine relevante Rolle spielen sollen, auch geeignete Vorbilder haben. Es gibt einige, aber nicht genug. Und viele von denen leben und arbeiten sehr extrem, sodass sie nur bedingt zum Vorbild taugen. Nehmen Sie die Yahoo-Chefin Marissa Mayer. Nur wenige Menschen schaffen es, einen Konzern zu lenken und mit Zwillingen schwanger zu sein. Das kann und will nicht jede.
Sie flüchteten einst aus Deutschland nach Großbritannien, heute bezeichnen Sie sich als englische Patriotin. Wie können Menschen, die heute nach Europa flüchten, eine ähnlich starke Bindung zu einem fremden Land aufbauen?
Ich wurde damals warmherzig von Fremden aufgenommen. Erst durch diese Unterstützung konnte ich mich entwickeln. Ich bin sehr dankbar, diese Chance bekommen zu haben. So konnte ich zu dem Menschen werden, der ich heute bin. Ich hoffe, dass die Menschen, die jetzt in Europa Schutz suchen, diese Chance auch bekommen.