Aktien Welche Dax-Werte wirklich top sind

Die Gewinne der Dax-Unternehmen steigen seit Jahren. Also alles in Butter? Von wegen. Die offiziell ausgewiesenen Zahlen können täuschen. Erst eine Analyse der Mittelzuflüsse zeigt, wer unter dem Strich wirklich Geld verdient.

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Wie der Mittelzufluss (Cash-Flow) berechnet wird

Davon hat René Obermann oft geträumt. Einen zweistelligen Milliarden-Jahresüberschuss – so viel Gewinn wollte der Chef der Deutschen Telekom seinen Aktionären schon lange mal zeigen. Im Frühjahr 2008 war es dann soweit. In der Gewinnrechnung der Deutschen Telekom AG für 2007 stand unterm Strich ein Plus von 13,3 Milliarden Euro. Einsame Spitze, hätte die Sache nicht einen Pferdefuß: Der exorbitante Gewinn stammt einzig und allein aus der Verschmelzung der T-Mobile Holding auf die Tochter T-Mobile AG. 17,3 Milliarden Euro steuerfreien Gewinn brachte das Obermann ein – auf dem Papier.

Leider schlägt sich der Ertrag nur im Einzelabschluss der AG nieder, der nicht alle Konzerntöchter enthält. Im Konzern schaffte Obermann nicht einmal 600 Millionen Euro Nettogewinn. Trotzdem schüttet die Telekom am 19. Mai – dem ersten Börsentag nach der Hauptversammlung – 3,4 Milliarden Euro Dividende an ihre Aktionäre aus. Ein Kleckerbetrag – gemessen am 13,3-Milliarden-Gewinn der AG-Bilanz, die Bemessungsgrundlage für die Ausschüttung ist. Gemessen am Konzerngewinn greift Obermann jedoch tief in die Reserven – die 3,4 Milliarden schwere Ausschüttung entspricht dem sechsfachen Betrag dessen, was die Telekom 2007 verdiente.

Unternehmen wie die Telekom machen es Anlegern nicht leicht. Welche Gewinnzahl wirft das richtige Licht auf die Ertragskraft? Welches Unternehmen verdient wirklich Geld und wäre deshalb eine lohnenswerte Investition?

Ein Blick auf die Gewinne und Ertragsprognosen, auf leicht beeinflussbare Zahlen wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das immer noch als Kernkennzahl an der Börse herumgereicht wird, genügt schon lange nicht mehr – Erträge sind häufig verzerrt, Bewertungsmaßstäbe in den Bilanzen oft fragwürdig oder schwer nachzuvollziehen. Und das nicht nur in den finanzkrisengeschüttelten Zahlenwerken der Banken.

Zum Leidwesen der Investoren ändern sich die Bilanzvorschriften ständig. Viele Unternehmen liefern Gewinnzahlen, die entweder mit denen der Vorjahre oder mit denen anderer Unternehmen nicht vergleichbar sind, selbst wenn diese aus derselben Branche stammen. Was also tun?

Es gibt einen Ausweg: „Gewinntrends sind im Mittelzufluss der Unternehmen deutlich stabiler zu erkennen als in den Jahresüberschüssen“, sagt Peter Leibfried, Geschäftsführender Direktor am Lehrstuhl für Wirtschaftsprüfung und Bilanzierung an der Universität St. Gallen. Der operative Mittelzufluss oder operative Cash-Flow gibt an, wie viel Geld aus den Umsätzen tatsächlich in der Kasse eines Unternehmens hängen bleibt. Diese Zahl spiegelt die Ertragskraft der Unternehmen besser wider als der simple Jahresüberschuss, der als Grundlage für die von Börsianern am meisten beachtete Kennzahl dient, dem Kurs-Gewinn-Verhältnis.

Der operative Cash-Flow ist nicht vom Gutdünken und von Schätzzahlen der Finanzchefs abhängig, sondern gibt Aufschluss darüber, was zum Beispiel BMW mit dem Autoverkauf, die Telekom mit Festnetz- und Mobilfunktelefonie oder die Lufthansa mit Flugtickets wirklich verdient. Und er zeigt, wie viel Geld ein Unternehmen in einem Geschäftsjahr für neue Investitionen, für das Ablösen alter Schulden oder für eine Dividende erwirtschaftet hat. „Der operative Cash-Flow ist deshalb über längere Zeiträume betrachtet aussagekräftiger als einfache Gewinnzahlen“, sagt Uwe Fieseler, Leiter Internationale Rechnungslegung beim Düsseldorfer Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland (IDW).

Eigentlich sollten Aktionäre die Berichte der Unternehmen ohne große Probleme lesen können und ohne in der Freizeit ein Universitätsseminar über Bilanzierung belegen zu müssen. Die Buchungen, auf denen am Jahresende die Bilanz aufbaut, sollen „wahrheitsgetreu und vollständig“ sein – so ein Grundsatz der ordnungsgemäßen Buchführung, der für alle deutschen Unternehmen gilt. Doch in der Realität geben sich nicht nur windige Finanzchefs Mühe, Schieflagen zu verbergen oder die tatsächliche Gewinnsituation zu verschleiern. Auch angesehene Weltkonzerne biegen ihre Zahlen so zurecht, wie sie ihnen gerade ins Kalkül passen. Schließlich hängen nicht nur bei Banken, sondern bei fast allen Unternehmen Gehälter und Boni von den Gewinnzahlen ab. US-Manager zum Beispiel kassieren durchschnittlich zehn Prozent der Unternehmensgewinne als Jahresverdienst. Je größer ein Konzern, desto zahlreicher sind die Möglichkeiten, dem Aktionär ein umfangreiches Blendwerk statt einer wahrhaftigen Jahresübersicht in die Hand zu drücken.

Das ist nicht im Sinne des Erfinders. Seit 2005 wurden in vielen Ländern die International Financial Reporting Standards (IFRS) zur Pflicht, die es Anlegern erleichtern sollen, börsennotierte Konzerne miteinander zu vergleichen. Eingetreten ist das Gegenteil: „Die Vergleichbarkeit der Kennzahlen wird der laufenden Verbesserung der Bilanznormen geopfert“, sagt Fieseler, „und wegen laufend neuer Regeln passen die Unternehmen oft auch die Zahlen der Vorjahre an.“ Das erschwert den Vergleich der plötzlich angepassten Zahlen mit den Ursprungs-Ergebnissen früherer Jahre. Da schieben Unternehmen Verluste aus Pensionslasten ins Eigenkapital, Gewinne werden um nicht nachvollziehbare, angeblich außerordentliche Belastungen „adjustiert“, wie es im Fachchinesisch der Finanzchefs dann heißt; und längst notwendige Abschreibungen auf zu teuer eingekaufte Firmen werden aufgeschoben. Alles, um Investoren das Bild einer vermeintlich ausgezeichneten Gewinnentwicklung in die Köpfe zu hämmern.

So betonte die amerikanische Merck im vierten Quartal 2007 „ohne Sonderposten“ 80 Cent je Aktie verdient zu haben. Unterm Strich schrieb Merck jedoch 1,6 Milliarden Dollar Verlust. Die Deutsche Börse verbuchte Ende 2007 eine vermeintlich „einmalige Belastung“ aus Aktienoptionen von 75 Millionen Euro, weil ihr Kurs stark gestiegen war. Einmalig – so als ob der Aktienkurs der Deutschen Börse nie mehr steigen könnte. RWE schleppte seine Tochter American Water lange zu überhöhten Preisen durch die Bücher und räumte erst vor gut zwei Wochen ein, nach dem Börsengang der Wassersparte in den USA, 600 Millionen Euro auf den ausgewiesenen Wert abschreiben zu müssen. Continental war für das Jahr 2006 gezwungen, seine Pensionspläne um 640 Millionen Euro nachzudotieren. Bayer versteckte 2005 gut 1,2 Milliarden Euro an Pensionslasten im Eigenkapital.

Zu niedrig ausgewiesene Pensionslasten, unterlassene Abschreibungen, ausgeklammerte Kosten, unterschätzte Optionsprogramme: Alle diese – völlig legalen – Bilanz-Verschönerungen verschleiern die wahre Ertragslage. Die Gewinne sehen dann kurzfristig entsprechend besser aus. Ein weiterer Trick: „Unternehmen können die Begleichung von Forderungen in die Zukunft verlagern“, sagt Professor Leibfried von der Uni St. Gallen, „im Lauf mehrerer Jahre gleicht sich das allerdings wieder aus.“ Anleger sollten Kennzahlen, so wie in der Analyse der WirtschaftsWoche, über mehrere Jahre untersuchen. An einer Kette harter Cash-Flow-Zahlen kann auch der findigste Finanzchef wenig deichseln.

Einzig bei Banken und Versicherungen können Anleger die Cash-Flow-Analyse nicht nutzen: Im Gegensatz zu Industrieunternehmen ist der Cash-Flow bei ihnen keine Kennzahl für eine valide Bewertung. Wichtiger sind bei ihnen Quoten wie Gewinn zu Eigenkapital (Eigenkapitalrendite) oder das Verhältnis zwischen Aufwendungen und Einnahmen (Cost/Income-Ratio). In der Mittelzufluss-Analyse der WirtschaftsWoche sind die Finanzaktien deshalb nicht enthalten.

Was die Finanzunternehmen im Dax verdienen

Die Jahresbilanz der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung in Berlin bestätigt, dass in den Zahlenwerken der Unternehmen längst nicht alles zum Besten steht. Die Bilanzpolizei prüfte 2007 die Abschlüsse von 135 Unternehmen, in 35 davon fanden sich „wesentliche Fehler“.

Einer Studie des Kölner Bankhauses Sal. Oppenheim zufolge sind rund 15 Prozent der Dax-Gewinne auf rein buchtechnische Änderungen zurückzuführen. Früher übliche jährliche Abschreibungen auf erworbene Unternehmen (Goodwill) fallen beispielsweise seit drei Jahren weg. Allein das bringt den Dax-Unternehmen im Schnitt eine jährliche Gewinnverbesserung um 200 bis 250 Millionen Euro. Neue Regeln zu Pensionslasten – die Finanzchefs müssen die Lasten nicht mehr wie früher in die Gewinnrechnung packen, sondern können diese im Eigenkapital verstecken – bringen im Durchschnitt noch einmal 300 bis 400 Millionen Euro Gewinnplus.

Diese Scheingewinne können die Vorstände aber schlecht ausschütten. So stiegen die Jahresüberschüsse der 24 Industrieunternehmen aus dem Dax von 2003 auf 2007 um rund 34 Milliarden Euro. Die operativen Cash-Flows der Dax-Industriekonzerne erhöhten sich um rund 20 Milliarden Euro. Diese Summe entspricht in etwa der Erhöhung der Dividenden-Ausschüttungssumme im selben Zeitraum, liegt aber um 14 Milliarden Euro unter dem Gewinnzuwachs. Der Zusammenhang ist klar: Nur was aus dem Cash-Flow in der Kasse ankommt, können die Unternehmen an die Anleger ausschütten. Gewinne, die rein buchhalterisch aus Regeländerungen stammen, zählen nicht dazu. Wer diese zur Basis für Dividenden nimmt, muss die Substanz seines Unternehmens angreifen. Immerhin haben sich „die Cash-Flows zuletzt verbessert“, aber im „Vergleich zu den Nettogewinnen hinken sie nach wie vor hinterher“, so Ralf Zimmermann, Analyst bei Sal. Oppenheim. So hat sich die Gewinnrendite, der Jahresüberschuss gemessen am Börsenwert, bei einem repräsentativen Korb mit Dax-Industriewerten seit Anfang 2001 auf aktuell neun Prozent mehr als verdoppelt. Die Rendite der operativen Cash-Flows für diesen Aktienkorb sei jedoch gegenüber 2001 unverändert, so Zimmermann.

Anleger, die nur auf das KGV achten, könnten deshalb in eine Falle laufen. Aktuell sind die 30 Unternehmen im Dax mit rund dem Zwölffachen ihrer geschätzten Jahresgewinne bewertet – das ist günstiger als im historischen Durchschnitt, der in den vergangenen 20 Jahren bei einem Wert von gut 15 lag. Gemessen an den Mittelzuflüssen nach Investitionen (freier Cash-Flow) sind die Dax-Werte jedoch keineswegs zu billig. Sie kosten im Schnitt den sechsfachen freien Mittelzufluss des laufenden Jahres – exakt so teuer waren die Dax-Unternehmen im jährlichen Durchschnitt seit 1988.

Wer auf Suche nach Papieren für die Langfristanlage ist, sollte deshalb wie die vielzitierten Heuschrecken agieren. Finanzinvestoren achten nicht auf das KGV, sondern vor allem darauf, ob sich ein Investment aus den Mittelzuflüssen des Unternehmens refinanzieren lässt. Die entscheidende Frage lautet: Welches Unternehmen hat nicht nur einen positiven Gewinntrend, sondern auch wachsende Mittelzuflüsse, die im Idealfall stärker zulegen als die Jahresüberschüsse? Welche Unternehmen müssen aus der Kasse nicht hohe Schulden bedienen, sondern können entweder kräftig investieren, eigene Aktien zurückkaufen oder hohe Dividenden zahlen?

Wie sich Cash-Flow-Rendite und Gewinnrendite entwickelt haben

Klarer Champion ist nach diesem Bewertungsansatz die Lufthansa. Gemessen am durchschnittlichen operativen Mittelzufluss der vergangenen fünf Jahre benötigt die Kölner Airline nur dreieinhalb Jahre, um ihren aktuellen Unternehmenswert (Börsenkapitalisierung plus Finanzschulden minus Kassenbestand) einzufliegen. Ein Aufkäufer hätte schon Ende 2011 seinen Einsatz wieder heraus, sollte die Lufthansa weiter ähnlich stabil Geld hereinholen. Lufthansa-Chef Wolfgang Mayrhuber macht jedenfalls Mut: „Das Rekordjahr 2007 soll keine Eintagsfliege bleiben.“

Auch die Gerüchte um eine Übernahme des Münchner Chip-Herstellers Infineon haben – gemessen an den Zahlen – Substanz. Binnen vier Jahren könnte eine Beteiligungsgesellschaft den Kaufpreis bereits wieder einspielen – sofern Infineon nicht in neue Werke und Anlagen fehlinvestiert.

In den roten Bereich rutscht dagegen ein gutes Drittel der 24 Industrieunternehmen im Dax. Beispiel SAP: Vor Jahresfrist erwartete Knut Woller von UniCredit in München, dass der Softwareriese nach eher schwächeren Jahren den Mittelzufluss „deutlich steigern“ werde. Zwar weist der Trend leicht nach oben, doch liegt SAP per saldo unter den hohen Erwartungen. Deshalb tritt auch der Aktienkurs auf der Stelle.

VW dagegen profitiert nicht nur vom Porsche-Einstieg und der damit verbundenen Aufkauffantasie. Der nackte Gewinn legte von 2003 auf 2007 deutlich um 3,1 Milliarden Euro zu. Den starken Kursanstieg der Aktie aber erklärt der binnen fünf Jahren nahezu verdoppelte operative Mittelzufluss besser: Er ist gleich um 7,3 Milliarden Euro nach oben gesprungen. Trotz der Kursverfünffachung seit 2005 zählt VW deshalb noch nicht zu den überteuerten Werten: Porsche könnte die zur Komplettübernahme noch fehlenden knapp 70 Prozent binnen sechs Jahren aus dem Cash-Flow der Wolfsburger bezahlen – vorausgesetzt, VW hält das Tempo.

Bei der Deutschen Börse dagegen liegt die Quote aus Unternehmenswert zu Cash- Flow bei 28. Das heißt, ein Aufkäufer müsste 28 Jahre warten, bis die Mittelzuflüsse auf Basis der Jahre 2003 bis 2007 den Unternehmenswert gedeckt haben. Dass die Börse die Zuflüsse demnächst vervielfachen könnte, ist eher unwahrscheinlich.

Hier ist also Vorsicht angesagt, die Suche nach einer Alternative könnte sich auszahlen. „Anleger sollten auch einen Vergleich zu den Renditen von Unternehmensanleihen ziehen“, rät Zimmermann von Sal. Oppenheim.

Unternehmen wie die Deutsche Telekom zahlen für lang laufende Anleihen über sechs Prozent Rendite. Mit diesen sicheren Papieren würden Investoren binnen 16 Jahren ihren Einsatz verdoppeln, mit Zinseszins sogar um das Zweieinhalbfache steigern.

Faustregel:  Bei 16 Jahren liegt die magische Grenze. Ist sie überschritten, braucht ein Unternehmen aller Voraussicht nach gut eineinhalb Jahrzehnte, um seinen Unternehmenswert durch operative Mittelzuflüsse hereinzuholen – Anleger sollten solche Aktien lieber meiden. Eine Anleihe ist dann meist die bessere Wahl – oder die Aktie eines Unternehmens, das seinen Wert deutlich schneller wieder einspielen könnte.

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