Aktienanalyse Hat der Markt die Krisen bereits verarbeitet?

An den Börsen herrscht viel Ungewissheit. Quelle: imago images

Die Aktienkurse vieler Unternehmen sind nahe ihren historischen Hochs. Kennziffern wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis signalisieren dennoch keine Überbewertung. Was das KGV für Anleger leistet – und was nicht.

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Rezession, Krieg, Inflation, eine mögliche Bankenkrise – zurzeit bewegen sich Aktienmärkte weltweit in einer Umgebung voll Ungewissheit und negativer Schlagzeilen. Bereits in weniger turbulenten Zeiten ließ sich nur schwer beurteilen, warum sich Kurse so verhielten, wie sie es taten. Nahezu unmöglich ist es vorherzusagen, wie sich die Kurse einzelner Unternehmen oder gleich ganzer Märkte entwickeln. Wer das könnte, hätte die Weltformel für unbegrenzten Reichtum. Aber es gibt diverse Indikatoren, mit deren Hilfe Anleger versuchen, zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, wo die Reise hingeht. Zentral ist gerade jetzt die Frage, ob in diversen Märkten die negativen Neuigkeiten bereits in den Kursen enthalten sind (ob sie „eingepreist sind“ wie es im Börsenjargon heißt) oder ob falsche Erwartungen die Aktienkurse auf einem hohen Niveau halten.

Um diese Frage zu beantworten, schauen Analysten unter anderem auf Fundamentalkennzahlen wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Das setzt den aktuellen Kurs einer Aktie ins Verhältnis zum Gewinn pro Aktie. Kurs-Gewinn-Verhältnisse im Bereich um zehn gelten als niedrig, solche über 30 typischerweise als hoch. Je stärker ein Unternehmen wächst, desto höher das KGV, das ihm an der Börse zugestanden wird.

Welche Aussagen sich auf Grundlage des KGV treffen lassen, hat sich „Bloomberg“-Kolumnist Nir Kaissar anhand von verschiedenen Indizes angesehen. Er geht der Frage nach, wie stark die schlechten Nachrichten bereits in den aktuellen Aktienkursen eingepreist sind. Dafür betrachtet er die für das laufende Jahr erwarteten KGVs (aktuelle Kurse, dividiert durch die erwarteten Unternehmensgewinne) und vergleicht sie mit den historischen KGVs verschiedener Indizes. Laut Kaissar finden sich in der Vergangenheit einige Krisen, von den Weltkriegen bis zur Finanzkrise 2008, bei denen die schlechten Nachrichten mit einem niedrigen KGV einhergingen. Dementsprechend könne ein KGV nahe dem historischen Tiefpunkt ein guter Indikator dafür sein, dass Märkte die schlechten Nachrichten bereits eingepreist hätten.

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Für Emanuel Mönch, Professor für Financial and Monetary Economics an der Frankfurt School of Finance and Management, sind Fundamentalwerte wie das KGV zwar wichtiger Bestandteil zur Bewertungspraxis, jedoch seien Schlussfolgerungen auf die Unter- oder Überbewertung von Unternehmen „mit Vorsicht zu genießen“. Das KGV sei einer von vielen Indikatoren, die auch in der Wissenschaft diskutiert würden, beispielsweise die Dividendenrendite oder das Kurs-Buchwert-Verhältnis. Wie groß die Vorhersagekraft dieser Indikatoren für ein einzelnes Unternehmen oder einen Index sei, werde in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlich beurteilt. Ein niedriges KGV kann zum Beispiel auch auf niedriges Wachstum und eine kritische Unternehmenssituation hindeuten – der Markt preist zwar den erwarteten Gewinn ein, erwartet aber nicht, dass dieser dauerhaft sein wird.

Die KGVs, die Kolumnist Kaissar zusammengetragen hat, zeigen starke Unterschiede zwischen diversen Regionen und Indexarten. So liegen die KGV-Werte der US-Indizes momentan deutlich weiter von ihren historischen Tiefpunkten entfernt als die Werte vergleichbarer internationaler Indizes. Der Russel 2000 Index, der US-Unternehmen mit einer geringen Marktkapitalisierung abbildet, hat ein erwartetes KGV von 23, während der MSCI EAFE Small Cap, welcher ähnliche Unternehmen in entwickelten Ländern außerhalb von Nordamerika abbildet, bei einem Wert von 13 liegt. Der Abstand zum jeweiligen Tiefpunkt beträgt im Fall des US-Index satte 16 Punkte, beim internationalen MSCI-Index lediglich sieben. US-Aktien sind demnach deutlich höher bewertet als die anderer Industriestaaten. Bemerkenswert sind diese Unterschiede vor allem vor dem Hintergrund, dass Probleme wie hohe Inflationsraten und die vorangegangene Pandemie beide Märkte betrafen. Dementsprechend liegt es nahe, davon auszugehen, dass die schlechten Nachrichten in einige Aktien und Märkten stärker eingepreist sind als in anderen.

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Ein Grund für diesen Unterschied könnte für Klaus Schlote, der Head of Research des Brokerhauses Solventis ist, jedoch auch in der höheren Liquidität des amerikanischen Marktes liegen. In weniger liquiden Märkten seien die Bewertungen entsprechend niedriger. Ähnliches gelte auch für den US-Technologiesektor, in dem man deutlich höhere Bewertungen sehe – vor allem, weil die Unternehmen stärker wachsen als typische Werte aus alten Industrien. Dementsprechend halte er den Unterschied für ein typisches US-Phänomen.

Doch nicht nur US-Unternehmen zeigen deutliche Abweichungen in den Bloomberg-Daten. Schaut man sich beispielsweise die beiden Varianten des MSCI EAFE an, die entweder auf Growth (Wachstums)- oder Value (Substanz)-Aktien ausgerichtet sind, lässt sich bei der Growth-Variante ein deutlich höheres KGV von 21 feststellen, während die Value-Variante mit einem KGV von neun ganze zwölf Punkte niedriger liegt. Dabei interessant ist außerdem, dass die historischen Tiefs nur um drei Punkte auseinanderliegen – und somit Value-Aktien nahe ihrer Tiefpunkte liegen, während Growth-Titel weit davon entfernt sind. Ähnliche Unterschiede finden sich auch in den US-Indizes.

Weil bei Growth-Aktien das Wachstum und die damit verbundenen zukünftigen Gewinne der jeweiligen Unternehmen zentral sind, spielt für sie laut Emanuel Mönch von der Frankfurt School das zyklische Auf und Ab der Konjunktur und des Aktienmarkts keine zentrale Rolle. Klaus Schlote sieht die Abhängigkeit der Growth-Aktien vom Zinsumfeld als mögliche Erklärung für die den Aktien zugestandenen höheren KGVs an. Laut ihm spekuliere der Markt auf sinkende Zinsen der US-Zentralbank, was man „auch an den Bewertungen, die wieder nach oben gehen“, sehe.

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Schlote und Mönch betonen, das KGV immer nur in Verbindung mit anderen Indikatoren zu verwenden. Die Konstruktion des Kurs-Gewinn-Verhältnisses kann auch zu Fehlinterpretationen führen. Denn letztlich drücken fallende Kurse bei schlechten Nachrichten das KGV kurzzeitig, doch wenn im Nachgang die erwarteten Gewinne ebenfalls nach unten korrigiert werden, wird dieser Effekt wieder ausgeglichen. Das niedrige KGV hat dann nicht eine Unterbewertung signalisiert, sondern es war zu Recht so niedrig, weil die Gewinnqualität mies war. Wer nur wegen des KGVs gekauft hat, dürfte enttäuscht werden.

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