Indien Indiens erstaunliches Wachstum

Das aufstrebende Indien blieb von der Weltkrise verschont und lockt viele ausländische Investoren an. Trotz Schikanen, katastrophaler Infrastruktur und Bürokratie gedeiht die Wirtschauft auf erstaunliche Weise.

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Der südkoreanische Quelle: REUTERS

Weit mehr als eine Milliarde Menschen, von denen erstaunlich viele binnen kürzester Zeit von der Dritten in die Erste Welt aufrücken, Wachstumsraten, die von der weltweiten Krise nur wenig geschmälert wurden – Indien lockt die Investoren an, derzeit gerade auch die ganz großen: Volkswagen hat zuletzt knapp 460 Millionen Dollar in den Bau einer Autofabrik in Pune investiert, einer boomenden Industriestadt, die auch dank beträchtlicher Investitionen von Daimler und MAN zum Zentrum der deutschen Wirtschaftspräsenz auf dem Subkontinent aufgestiegen ist.

„Deutsche Firmen erwarten in Indien auch 2009 überdurchschnittliche Ergebnisse im Vergleich zu angestammten Märkten“, sagt Bernhard Steinrücke, Geschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer in Mumbai: Ein Viertel der Unternehmen seiner Kammer plant, bis 2011 die Investitionen im Land kräftig zu erhöhen, weitere 37 Prozent beabsichtigen zumindest eine moderate Erhöhung. Weniger als zehn Prozent wollen sie senken. Insgesamt ist Deutschland inzwischen der siebtgrößte Auslandsinvestor im Land.

Asiatische Konzerne steigen in Indien ein

Womit die Deutschen im riesigen Indien immer noch keine Hauptrolle spielen. In der Provinz Maharaschtra, in der auch Mumbai und Pune liegen, will der südkoreanische Stahlgigant Posco fast eine Milliarde Dollar in ein neues Werk stecken. Japans Reifengigant Bridgestone plant in der Nähe der Autostadt Pune eine neue Fabrik für 420 Millionen Dollar, der Getränkemulti Pepsico steckt dieses Jahr 220 Millionen Dollar in den Ausbau seiner indischen Anlagen, und die mexikanische Kinokette Cinepolis tritt mit einem Investitionsvolumen in Höhe von fast 350 Millionen Dollar in der Heimat der Bollywood-Streifen an.

Zwar lag Indien dem aktuellen World Investment Report der UNCTAD zufolge noch vor einem Jahr im Länderranking der ausländischen Direktinvestitionen auf Platz 13. Doch innerhalb Asiens belegen die Inder nach China und Hongkong den dritten Platz. Das liege eben am „exzellenten Klima für ausländische Investitionen“, erklärte Ministerpräsident Manmohan Singh vor wenigen Wochen bei der Eröffnung eines Ölfeldes in der Provinz Rajasthan, das von einem amerikanisch-indischen Konsortium erschlossen wird.

Indien leidet an katastrophaler Infrastruktur

Aber glaubt der Premier, der einst als Finanzminister den Übergang des ausgepowerten Landes zur Marktwirtschaft managte, wirklich an seine eigenen Worte? Es ist nicht nur das Elend in den Dörfern und in den großstädtischen Slums, das daran zweifeln lässt. Indiens Wirtschaft leidet vor allem unter einer katastrophalen Infrastruktur, selbst in den Hochburgen des neuen Indien.

Keine indische Metropole hat ein angemessenes öffentliches Nahverkehrssystem, eine Müllabfuhr oder eine halbwegs zuverlässige Stromversorgung. Neuankömmlinge in Indien werden gewarnt, in den ersten Monaten kein Wasser aus der Leitung zu trinken, der Verseuchung wegen. Auch in Pune müssen die Unternehmen ertragen, dass ihnen an einem Tag pro Woche der Strom komplett abgeklemmt wird. „Energie, Verkehr, Produktionssicherheit – wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen“, gesteht Zubin Kabraji, Chef der Deutsch-Indischen Handelskammer am Ort.

Mumbai Stock Exchange: Das aufstrebende Indien blieb von der Weltkrise verschont Quelle: rtr

Eine wichtige Quelle des Übels ist oft beschrieben und nie besiegt worden: die ausufernde Bürokratie. Schon zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft vor 1948 galt die Verwaltung Indiens als „effizient“ – womit ironisch die Fähigkeit umschrieben wurde, sie könne jede Initiative im Keim ersticken. Danach blühte die Bürokratie weiter unter einem lähmenden Staatssozialismus. Der ist zwar inzwischen abgeschafft, doch im Alltag treibt die Quasi-Kaste der Bürokraten weiter ihr Unwesen. Nicht nur der Staat, auch zahlreiche bürokratisch deformierte Unternehmen quälen Bürger, Kunden und Geschäftspartner mit einer Vielzahl überflüssiger Verwaltungsakte, Kontrollen und Verzögerungen. Wer in Indien so etwas Simples wie ein Girokonto eröffnen oder ein Handy in Betrieb nehmen will, sollte sich besser für ein paar Arbeitstage nicht viel anderes vornehmen.

Indien ist Rechtsstaat ohne Richter

Entsprechend fiel im September der Doing-Business-Bericht der Weltbank über das Klima für Unternehmen aus. In diesem weltweiten Vergleich landete Indien unter 183 Staaten auf Platz 133, gleich hinter Malawi. Einziger Trost: Bei den Chancen für Unternehmen, an Kredite zu kommen, erreichte das Riesenland einen achtbaren 30. Platz. Doch ganz schlecht, auf Platz 169, rangiert Indien bei der Frage, wie leicht Unternehmensgründungen sind: „Es hat sich gezeigt, das hohe Gründungshürden keineswegs die Produkte besser, die Arbeit sicherer oder die Herstellung umweltverträglicher machen“, kritisieren die Weltbanker, „vielmehr schränken sie private Investitionen ein, drängen mehr Menschen in den informellen Sektor, erhöhen Preise und füttern die Korruption.“ Zwar gelingt es vielen von Spitzenpolitikern hofierten ausländischen Investoren leichter als einheimischen Jungunternehmern, die entsprechenden Hürden zu überwinden – doch dann fehlen ihnen oft die passenden Geschäftspartner im Land.

Und wenn es welche gibt, sollte es nach Möglichkeiten nicht zu Konflikten kommen. Denn in der Frage, wie leicht sich Vertragserfüllung durchsetzen lässt, rangiert Indien der Weltbankstudie zufolge auf dem vorletzten Platz aller Länder – noch schlechter geht es nur im bettelarmen und von Kriegswirren zerstörten Osttimor zu. In Relation zur Einwohnerzahl amtieren in Deutschland zum Beispiel neun Mal mehr Richter als in Indien. Die größte Demokratie der Welt ist in der Realität ein Rechtsstaat ohne Richter – das kann nicht funktionieren.

Kaufkraft der Mittelschicht wächst stetig

Umso erstaunlicher ist es, dass viele ausländische und einheimische Unternehmen in diesem schwer erträglichen Wirtschaftsklima dennoch irgendwie gedeihen. Viele verleiten die Zukunftsaussichten des riesigen Landes mit seinen mehr als 1,1 Milliarden Menschen und einem jährlichen Bevölkerungswachstum von etwa 1,5 Prozent dazu, das schwierige Umfeld zu ignorieren. In nahezu sämtlichen Branchen berichten Investoren von 20 oder gar 30 Prozent Wachstum pro Jahr – bei ähnlich exorbitant steigenden Profiten. Während die Märkte der USA oder Europas längst gesättigt sind und nennenswertes Wachstum allenfalls in Nischen zu erzielen ist oder ungewöhnlicher Innovationen bedarf, boomen in Indien selbst Hersteller von Allerweltsprodukten – unmittelbare Folge eines gewaltigen Nachholbedarfs und der wachsenden Bevölkerung, in der auch die Ober- und Mittelschichten Hunderte Millionen Menschen zählen – und deren Kaufkraft stetig wächst.

Zerikampf in Fernost: BIP in China und Indien

Paradoxerweise finden internationale Investoren Indien derzeit auch deshalb so attraktiv, weil es noch relativ wenig mit der Weltwirtschaft verflochten ist. Während der benachbarte Rivale China im vergangenen Jahr Güter im Wert von 35,8 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts exportierte, lag der entsprechende Wert für Indien nur bei 24 Prozent. So waren die Erschütterungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise im Land nur sehr gedämpft zu spüren. Das Centre for Monitoring Indian Economy in Mumbai prognostiziert deswegen für dieses Jahr ein BIP-Wachstum von insgesamt sechs Prozent, der Industrieverband CII rechnet sogar mit bis zu sieben Prozent. „Während die meisten entwickelten Volkswirtschaften 2009 stagnieren oder schrumpfen werden, ist Indien in der Lage, ausländische Investoren zu gewinnen“, sagt Finanzminister Pranab Mukherjee.

Allein im laufenden Jahr werden die Ausländer insgesamt 3,5 Milliarden Dollar ins Land bringen. Allerdings hoffen viele von ihnen, dass sich die traditionell starke Binnenorientierung der indischen Volkswirtschaft – trotz ihre aktuellen Vorzüge – in Zukunft lockert. Danach sieht es aber nicht unbedingt aus. Nur vereinzelt gibt es Tendenzen zur außenwirtschaftlichen Liberalisierung: So wirbt Energieminister Sushil Shinde für Gemeinschaftsunternehmen des indischen Staates mit ausländischen Privatinvestoren etwa für Gaspipelines und Überlandleitungen.

Und auch Verkehrsminister Kamal Nath setzt beim überfälligen Aufbau einer modernen Infrastruktur auf Private Public Partnership (PPP). Doch wenn es in der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) in den vergangenen Jahren um die Liberalisierung des Welthandels ging, führte Indien fast immer die Riege der Blockierer an. Dhruv Sawhney, der frühere Präsident des Industrieverbands CII, findet dafür sogar einen guten Grund: „Wie könnten wir Waren aus einer industriell produzierenden Landwirtschaft nach Indien lassen, in der Brüssel pro Kuh täglich fast zwei Euro Subvention zahlt?“ Kein indischer Kleinbauer könne mit den Europäern oder Amerikanern konkurrieren.

Landwirtschaft leidet an furchtbarer Dürre

So ist Indien auch fast zwei Jahrzehnte nach der großen Liberalisierung der Neunzigerjahre von einem freien Waren- und Kapitalverkehr noch weit entfernt. Selbst Venu Srinivasan, der derzeitige Präsident des CII, bezeichnet sein Land als "überreguliert und überadministriert".

Und daran wird sich so schnell nichts ändern. Denn bei aller marktwirtschaftlichen Überzeugung kann die Regierung Singh gerade jetzt die Abermillionen armer Kleinbauern nicht hängen lassen. Die leiden unter einer furchtbaren Dürre: Im Monsun des Sommers 2009 war die Regenmenge 23 Prozent geringer als im langjährigen Durchschnitt. Wegen der Ernteausfälle in vielen nördlichen und östlichen Distrikten droht eine schlimme Hungersnot. Da sind Subventionen gefragt – für weitere Liberalisierungen ist das im wahrsten Sinn das falsche Klima. 

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