
Martin Schulz, selbst ernannter größter Europäer aller Zeiten, erntete Kritik, als er kurz vor der Europawahl 2014 diese Anzeige verbreiten ließ: „Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden.“ Schulz verlor nicht bloß Sympathien, sondern auch das Rennen um den Posten des Kommissionspräsidenten.
Sein Wunsch nach einer starken deutschen Stimme in Brüssel ist trotzdem in Erfüllung gegangen. Denn der siegreiche Rivale Jean-Claude Juncker berief als Kabinettschef Martin Selmayr, 44, gebürtiger Bonner, besondere Eigenschaft: besonders ehrgeizig. Über den Juristen kursiert in EU-Kreisen das Bonmot, ihm sei egal, wer unter ihm Kommissionspräsident werde. Dort besteht kein Zweifel, wer in der wichtigsten europäischen Behörde das Sagen hat: „der Deutsche“.





Freut dies Berliner Beamte und Politiker? Eher nicht, wie gerade bei einer Stippvisite von Selmayr in der deutschen Hauptstadt zu beobachten war. Hiesige politische Entscheider stöhnen auf, wenn sie den Namen von Junckers rechter Hand hören. Ihr Fazit lautet: Man habe sich ja eine dynamischere EU-Kommission gewünscht. Aber ganz so dynamisch wie Selmayr – der auch am Wochenende so oft im Büro anzutreffen ist, dass ihn seine Frau dort besucht, und der als Freizeitausgleich Europarecht an der Universität lehrt – vielleicht doch nicht.
Genüsslich spöttelt man in Berlin über dessen öffentliche Juncker-Verehrung – die Professor Dr. Selmayr bei einem Mittagsgespräch in der lokalen Dependance der Europäischen Kommission bereitwillig zelebrierte. 200 Zuhörern lieferte er eine einstündige Lobeshymne auf Europa im Allgemeinen und Juncker im Speziellen. „Ich habe ihn mir schon vor zehn Jahren als Kommissionspräsidenten gewünscht“, sagte Selmayr und schien dies ernst zu meinen. „Wir müssen Europa ein menschlicheres Gesicht geben“, fügte er hinzu, „und ich glaube, dass Juncker dieses Gesicht sein kann.“ Der Luxemburger sei ein politischer Präsident mit Gespür für die Besetzung der Kommission.
Ein wenig zu politisch wohl nach Berliner Maßstäben, das erklärt die dortige Abneigung gegen Selmayr. Denn der macht keinen Hehl daraus, dass er Machtworte aus großen Mitgliedstaaten wie Deutschland eher gering schätzt – und sich dem Christdemokraten Juncker auch nahe fühlt, da diesem ein Europa der Solidarität und der starken EU-Institutionen vorschwebt.
Berlin schwebt derzeit eher ein Europa der Regeln vor. Als Selmayr dort zum Besten gab, Juncker lese sogar deutsche Zeitungen, lautete prompt ein verstohlener Konter, man würde lieber seltener von Juncker in deutschen Zeitungen lesen. Denn just am Besuchstag seines Kabinettschefs warb der in der „Süddeutschen Zeitung“ wieder um mehr Verständnis für die Griechen – genau wie Selmayr, der vor einem rein ökonomischen Blick auf die Krise warnte. „So funktioniert Europa nicht. Europa hat eine Seele. Dafür wird Juncker kämpfen.“
Derart beseelte Sätze nerven mitten in den chaotischen Verhandlungen mit Athen viele Bundesbeamte. Sie raunen, Selmayr solle nicht übertreiben, er verfüge nur über geliehene Macht. Doch man sollte dessen Entschlossenheit nicht unterschätzen. In Brüssel erzählt man sich diesen Witz: Was ist der Unterschied zwischen Selmayr und Gott? Antwort: Gott denkt nicht, Selmayr zu sein.