
Der Mathematikunterricht ist in einer katastrophalen Situation. Nicht einmal mehr die grundlegende Mittelstufenmathematik wird den Schülern abverlangt, beklagten mehr als 130 Lehrer, Dozenten und Hochschullehrer der Mathematik oder Ingenieurwissenschaften, einige Mathematikdidaktiker und Eltern in einem öffentlichen "Brandbrief". Zu den Mängeln gehören demnach die Bruchrechnung, die Potenz- und Wurzelrechnung, binomische Formeln, Logarithmen, Termumformungen sowie die Elementargeometrie und Trigonometrie.
Abiturienten fehlen die grundlegendsten Kenntnisse
Das Fehlen grundlegender mathematischer Kenntnisse führt dazu, dass immer mehr Abiturienten nicht einmal mehr über die grundlegende Mittelstufenmathematik als zwingend notwendige Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums oder auch einer Ausbildung im dualen System verfügen. Die fachlichen Anforderungen befinden sich längst nicht nur im Mathematikunterricht (und seiner Didaktik) im freien Fall. Die Klagen der ‚Abnehmer‘ von Schulabsolventen, also Ausbildungsbetriebe und Hochschulen, eingelullt von den falschen Versprechungen der Bildungspolitiker (kürzer, schneller, kompetenter), werden immer lauter.
Zu den Autoren
Hans-Jürgen Bandelt war bis 2016 Mathematikprofessor an der Universität Hamburg.
Franz Lemmermeyer unterrichtete nach seiner Habilitation 2000 an Universitäten in den USA und der Türkei und ist seit 2007 Lehrer am Gymnasium St. Gertrudis in Ellwangen.
Hans Peter Klein ist seit 2001 Professor für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe Universität Frankfurt und war davor mehr als 20 Jahre Gymnasiallehrer.
Schuld daran ist die den Schulen seit PISA verordnete Kompetenzorientierung mit dem Verzicht auf die Vermittlung grundlegender fachlicher Inhalte, die insbesondere von der „modernen“ Fachdidaktik auf den Weg gebracht wurde. Ursprünglich war die Fachdidaktik in den 70er Jahren im deutschsprachigen Raum eingeführt worden, um die Lücke zwischen dem Fach selbst und dem Fachunterricht zu überbrücken. Dementsprechend waren Fachdidaktiker der ersten Generationen meist im Fach ausgewiesen, hatten also dort ihre Promotion und vielfach auch zumindest Teile ihrer forschungsrelevanten Publikationen angesiedelt.
PISA 2015: Was und wie getestet wurde
In Abgrenzung zur italienischen Stadt Pisa durchgehend groß geschrieben, stehen die vier Buchstaben PISA für „Programme for International Student Assessment“. Die PISA-Stichprobe gilt laut OECD als repräsentativ für 15-jährige Schüler, die eine Schule in Deutschland besuchen. Es wird alle drei Jahre im Auftrag der Regierungen oder in Deutschland für die Kultusministerkonferenz (KMK) der 16 Länder organisiert. Eine regionale Aufschlüsselung nach Bundesländern gibt es nicht. Diese lieferte zuletzt Ende Oktober der „Bildungstrend“ des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).
Weltweit nahmen im Mai vergangenen Jahres eine gute halbe Million Mädchen und Jungen aus etwa 70 Staaten und Regionen teil - stellvertretend für etwa 29 Millionen Schüler dieser Länder. In Deutschland wurden mehr als 10.000 repräsentativ ausgewählte Mädchen und Jungen getestet.
Der 2015er Test wurde Erstmals komplett computerbasiert bearbeitet. Dies galt auch für die in dieser sechsten PISA-Auflage enthaltenen übergreifenden Kompetenzen des Problemlösens im Team. Die Jugendlichen mussten am Computer Aufgaben bearbeiten, in denen sie nicht auf sich allein gestellt waren, sondern virtuell Mitschüler oder Partner haben. Diese für soziale Kompetenz aussagekräftigen Testergebnisse werden als PISA-Teilstudie erst 2017 veröffentlicht, weil das Datenmaterial äußerst umfangreich ist.
Nach 2006 wurde bei „PISA 2015“ zum zweiten Mal schwerpunktmäßig die naturwissenschaftliche Kompetenz von 15-Jährigen auf den Prüfstand gestellt. Aus diesem Bereich stammte diesmal ein Großteil der Fragen, der „NaWi“-Katalog umfasste insgesamt gut 180 Aufgaben. Die für PISA zuständige Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veranschlagte alles in allem rund dreieinhalb Stunden für die als „wirklichkeitsnah“ beschriebenen Testfragen.
Jeweils ein kleinerer Teil der PISA-Aufgaben 2015 betraf die Bereiche Mathematik sowie auch Lese-/Textverständnis. Dies wird von der OECD definiert als Fähigkeit, „geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“. Gut 10 000 Schüler aus Deutschland wurden getestet und außerdem Zehntausende Eltern, Lehrer und Schulleiter im Rahmen von „PISA 2015“ befragt.
Für jeden der drei Bereiche wurden fünf Kompetenzstufen definiert - nur sehr gute oder herausragende Schüler schaffen die Stufen IV und V.
Weiterhin war für die neu geschaffenen Professorenstellen der Nachweis des zweites Staatsexamens und einer darauf folgenden mindestens dreijährigen Berufspraxis in der Schule verbindlich vorgeschrieben.
Nach PISA 2000 verabschiedete man sich zunehmend von diesen Voraussetzungen. Die “moderne“ Fachdidaktik sollte nunmehr zu der Vermessung des Bildungswesens beitragen - mit üppigen Drittmitteln ausgestattet. Entsprechend sind viele Fachdidaktiker heute vor allem Zulieferer der empirischen Bildungsforschung und kommen weder aus dem Fach noch aus der Unterrichtspraxis. Die mehr als fragwürdige Erstellung von Kompetenzmodellen, Kompetenzstufenmodellen, Kompetenzentwicklungsmodellen und entsprechender textlastiger Aufgaben als Grundlage für die Ausweisung unterschiedlicher Kompetenzstufen nach dem PISA-Konzept wird als vordringliche Aufgabe der Fachdidaktik angesehen.





Ein Blick in die Zeitschrift "Journal für Didaktik der Mathematik" (JMD) offenbart, dass die dort abgehandelten Themen überwiegend weder zur Mathematik gehören noch den Schulunterricht stofflich bereichern können. Der (inzwischen emeritierte) Mathemathematikdidaktiker Thomas Jahnke hat nachgezählt, welcher Seitenanteil im JMD noch über schulmathematisch Inhaltliches – von der „modernen“ Fachdidaktik despektierlich „Stoffdidaktik“ genannt – zu finden war: In den 80er Jahren beginnend waren es immerhin noch rund 25 Prozent, in den 90er Jahren 18 Prozent und in den Nullerjahren nur noch 8 Prozent. Mittlerweile ist die „Stoffdidaktik“ fast ganz verschwunden.