Bildungspolitik Wider den kopflosen Digitalpakt

Ein Mädchen packt einen Tablet-Computer in ihren Schulranzen. Quelle: imago images

Die wichtigsten Bedenken gegen den Digitalpakt sind nicht diejenigen, die die Bundesländer anführen. Dem Vorhaben mangelt es vor allem an einem pädagogischen Konzept – und an Nachhaltigkeit.

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Vor ein paar Wochen war die Freude noch groß: Dank einer Mehrheit im Bundestag sah alles danach aus, dass die lange angekündigten fünf Milliarden Euro vom Bund, um Schulen in Deutschland ans Netz zu bringen, in den nächsten fünf Jahren ausgeschüttet werden können. Die digitale Revolution, so die Hoffnung über alle Parteigrenzen hinweg, naht. Deutsche Bildung verliert nicht den Anschluss und bleibt konkurrenzfähig. Doch dann machte der Bundesrat einen Strich durch diese Rechnung und verwies vornehmlich auf die Kulturhoheit der Länder. Derweil hätte er eine ganze Reihe von anderen Gründen ebenso nennen können:

Zunächst ein Blick in die Vergangenheit, aus der man durchaus Hinweise für die Gestaltung der Zukunft ablesen kann: Was war denn der ausschlaggebende Grund für Fortschritt und Wohlstand, wie ihn beispielsweise Steven Pinker in seinem Buch „Aufklärung jetzt!“ beschreibt? Was zeichnete erfolgreiche Bildung aus? Nicht Technik. Humanität und damit Urteilskraft und Tatendrang. Wir Menschen sind es, die Revolutionen hervorrufen, durch unser Denken und unser Handeln, unsere Werte und unsere Normen.

Sodann ist festzuhalten, was empirisch mittlerweile schon so oft nachgewiesen wurde, dass man müde werden könnte, es zu wiederholen: Technische Ausstattung alleine bringt wenig. Ein schlechter Unterricht wird durch digitale Technik weder modern, wie es dieser Tage zu vernehmen ist, noch gut. Unter Umständen kann lediglich ein guter Unterricht besser werden. Entscheidend sind also die pädagogischen Konzepte und damit vor allem die Menschen, die die Technik zum Leben erwecken. Fehlen diese Konzepte, so läuft die digitale Revolution Gefahr zu einer digitalen Deformation des Bildungswesens zu führen. So bleibt beispielsweise die Einsicht, dass Papier und Bleistift als Medien den digitalen Medien in so manchen Situationen überlegen sind, wie in den Studien „The pen is migthier than the keyboard“ oder „Don’t throw away your printed books“ nachzulesen ist. Zwar lassen sich in den nächsten fünf Jahren mit den fünf Milliarden Euro circa 625.000 Smartboards oder etwa 25 Millionen Tablets oder eine beliebige Mischung aus beidem besorgen. Und natürlich ist die Technik die Voraussetzung für Konzepte. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Ohne Menschen keine Konzepte. Und ohne Konzepte kein sinnvoller Technikkauf. Man hätte also zumindest die Hälfte dieses Geldes verwenden können, ja müssen, um in die Menschen zu investieren – hochgerechnet wären das etwa 10.000 Lehrerstellen für die nächsten fünf Jahre gewesen.

Trefflich lässt sich also über die Verteilung der Milliarden streiten. Es gibt Gründe für das eine und Gründe für das andere. Vermutlich stimmen beide Seiten zu, dass mehr Geld sinnvoll wäre. Worüber aber nicht gestritten werden kann, ist Folgendes – und das muss immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden, weil es bei keiner Partei aktuell angekommen ist: Die digitale Revolution hat eine Schattenseite und diese heißt (immer noch) Nachhaltigkeit. Denn die 625.000 Smartboards oder 25 Millionen Tablets verursachen Plastik- und Elektroschrott in einem rasanten Ausmaß – und das fast alle Jahre wieder.

Dabei weisen die Schlagzeilen zu Plastikmüll in den Weltmeeren, in Tieren und nicht zuletzt beim Menschen darauf hin, dass die Frage des Recyclings (noch) nicht zufriedenstellend beantwortet ist. Und auch beim Elektroschrott liegen die Karten leider (noch) auf dem Tisch, wie der Film „Welcome to Sodom“ mit dem nachdenklichen Untertitel „Dein Smartphone ist schon hier“ verdeutlicht: Elektroschrott der westlichen Länder wird eben nicht ordnungsgemäß wiederverwertet, sondern von den Ärmsten der Armen unter gesundheitsschädlichen Umständen verbrannt, um so die wertvollen Gramm an seltenen Erden freizulegen und für ein Butterbrot an Industriegiganten abzugeben. Nachhaltigkeit sieht (noch) anders aus – noch, weil in der Digitalisierung durchaus Potenzial stecken könnte, Nachhaltigkeit zu befördern, aber dies bisher nur am Rande geschieht. Die Papierersparnis durch digitale Medien ist übrigens kein solches Beispiel, weil die benötigten Ressourcen für die digitalen Medien die Bilanz schnell umkehren.

Das Bildungssystem hat wie kein anderer Bereich gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Bei allem nachvollziehbaren Streben nach Wachstum und Wettbewerb, ist es problematisch, wenn ausgerechnet er zu einem der größten Umweltsünder wird. Insofern dürfen wir eines nicht vergessen: Wir Menschen sind Teil der Natur. Wir können nicht ohne sie leben. Nicht die Insekten und Vögel brauchen den Menschen, sondern wir Menschen brauchen sie. Digitale Revolution ohne Nachhaltigkeit läuft also Gefahr, dass wir zwar eines Tages alle Kinder mit Tablet & Co. ausstatten könnten, aber keine Kinder mehr haben, die diese Geräte benutzen. Pädagogische Verantwortung impliziert somit, alle Neuerungen immer vor dem Hintergrund eines umfassenden Bildungs- und Erziehungsauftrages zu sehen. Schule darf nicht nur auf einen Wandel reagieren, sie muss ihn ebenso mitgestalten. Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind in diesem Kontext zwei Seiten einer Medaille.

Univ.-Prof. Dr. Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg

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