Covid-19 Die Impfpflicht – ein Nachruf

Die allgemeine Impfpflicht ist soeben gescheitert. Quelle: imago images

Die allgemeine Impflicht ist vom Tisch. Gut für die Freiheit. Eine liberale Gesellschaft kann und muss seit Omikron auch mit einer kleinen Gruppe von Abweichlern leben – so wenig rational deren Motive auch sein mögen. Ein Gastbeitrag.

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Jan Schnellenbach, geboren 1973, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.

Die allgemeine Impfpflicht ist soeben gescheitert, aber eine altersbezogene Pflicht wird weiterhin erwogen. Es ist bemerkenswert, dass dieses Thema auch unter Liberalen sehr unterschiedlich bewertet wird. So hat Christopher Gohl vor einigen Wochen in der WirtschaftsWoche argumentiert, dass eine gesetzliche Impfpflicht gegen Covid-19 aus liberaler Sicht gerechtfertigt sein könne. Ein wesentliches Argument war, dass es darum gehe, die „gesellschaftliche Freiheitsbilanz zu optimieren“, also gewissermaßen die Summe der individuellen Freiheiten in der Gesellschaft möglichst groß werden zu lassen.

Lesen Sie hier den Gastbeitrag von Christopher Gohl: Freiheit ist uns nicht nur gegeben – sie ist uns auch aufgegeben

Das klingt für einen Liberalen zunächst plausibel – wer sollte etwas dagegen haben, Freiheit zu maximieren? Aber so einfach ist es vielleicht doch nicht. Ich möchte in diesem Beitrag vor allem zwei Punkte machen: Erstens halte ich das Ziel, das Gohl formuliert hat, tatsächlich für problematisch, da es mit einer individualistischen Herangehensweise kollidiert. Zweitens kann man auch auf der empirischen Ebene fragen, ob eine gesetzliche Impfpflicht wirklich nützlich und notwendig ist, um die in einer Gesellschaft lebbare Freiheit auszudehnen.

Die Vorstellung, dass man die Summe der gesellschaftlichen Freiheiten maximieren kann, setzt voraus, dass individuelle Freiheiten gegeneinander aufgerechnet werden können. Man schränkt die Freiheit der Impfunwilligen ein wenig ein, indem man ihnen Geldbußen androht, und erweitert dafür die Freiheit der übrigen Bevölkerung, die nun von pandemischen Maßnahmen im wahrsten Sinne des Wortes befreit zur Normalität zurückkehren kann.

Aber kann man tatsächlich die Freiheit der einen Menschen, die Impfung zu verweigern, aufrechnen gegen die zusätzliche Freiheit, die andere Menschen leben können, wenn sie ein von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen unbehelligtes Leben führen können, wie es die Abgeordnete Emilia Fester in einer wütenden Rede im Bundestag unterstellte? Zur grundsätzlichen Frage, ob eine solche Aufrechnung überhaupt möglich ist, gesellt sich außerdem eine neue Faktenlage. Angesichts milder verlaufender Omikron-Erkrankungen wagt die Politik bereits bei der aktuellen Impfquote den weitgehenden Abbau von Maßnahmen, die unseren Alltag seit 2020 unfreier gemacht hatten. Benötigen wir also gar keine höhere Impfquote, um wieder mehr Freiheiten zu genießen?

Gohl weist auch auf demokratische Such- und Lernprozesse hin, wo Fragen der Abwägung von kollidierenden Freiheiten nicht eindeutig zu klären sind. Dies erscheint ebenfalls erst einmal plausibel, aber auch hier gibt es einen Einwand: Solche Prozesse brauchen Leitplanken, und gerade aus liberaler Sicht sollte es möglichst wenig Leitplanken geben, sobald es um Eingriffe in die persönlichste Sphäre der Individuen geht, also um Entscheidungen, die direkt den eigenen Körper betreffen. Letztendlich geht es hier um einen Konflikt zwischen heterogenen individuellen Werten und individuellen Rechten einerseits, sowie gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen andererseits.

Damit läuft Gohl in das Paradoxon des Liberalismus hinein, das Amartya Sen bereits 1970 in einem einflussreichen Papier formuliert hat. Der indische Wirtschaftswissenschaftler zeigt hier, wie leicht gesellschaftlicher Gestaltungswille individuelle liberale Rechte aushebelt. In diesem Konflikt neigt die liberale Position aber grundsätzlich stärker zum Erhalt individueller Rechte als zur Definition und Durchsetzung von – in der Regel ohnehin selten eindeutigen – Kollektivpräferenzen. Wenn Gohl individuelle Rechte zugunsten solcher Kollektivpräferenzen schleifen will, die sich in einer wie auch immer aufgestellten gesellschaftlichen Freiheitsbilanz niederschlagen, bewegt er sich daher einige Schritte weg vom Kernbestand liberalen Denkens.

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