Knauß kontert

Es geht um die Kultur, Dummkopf!

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Krise der Demokratie

Das ist der Maßstab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals war man vernünftigerweise nach der Weltwirtschaftskrise und den beiden Weltkriegen zu dem Schluss gekommen, dass Politik vor allem eine Aufgabe habe: für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Durch allgemeine Wohlstandssteigerung ließen sich materielle Nöte lindern und soziale Konflikte entschärfen.

Gleichzeitig hatten sich in der Wirtschaftswissenschaft das Zählen und Rechnen als allein akzeptierte Methode durchgesetzt. Nicht mehr die reine Erkenntnis war das Ziel, sondern politisch umsetzbare Kompetenzgewinnung. Und Politiker setzten um, was kompetente Ökonomen ihnen rieten - ob Ordoliberale, Keynesianer oder Angebotstheoretiker. Das funktionierte einige Jahrzehnte lang sehr gut.

So viel geben die Länder für Theater und Musik aus

Nun, im frühen 21. Jahrhundert, stehen wir aber zumindest in Deutschland und im Westen vor neuen Problemen, die nicht ökonomisch zu lösen sind. Nicht materielle Not ist die größte Sorge der Unzufriedenen, sondern das Empfinden des Verlusts von kultureller Verankerung ("Heimat") einerseits und die Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen andererseits. Die beiden existentiellen Fragen der Zeit sind die nach der Begrenztheit der Natur und nach den Grenzen der Gemeinwesen. Es sind kulturelle Fragen, bei denen es nicht ums Zählen und Rechnen geht. Sie lassen sich nicht durch Wirtschaftspolitik lösen. Im Gegenteil, beide werden durch wirtschaftliche Dynamik sogar verschärft.

Die herkömmlichen Funktionseliten haben dafür keine Antenne. Auf die Unruhe, Angst und Gärung, die diese Verlustangst auslöst, geben sie wie derzeit Macron in Frankreich die alte ökonomische Antwort: Investitionen, im Zweifel schuldenfinanziert.

Zu Kultur fällt den meisten Politikern wenig bis nichts ein. Mit Kulturpolitik ist auch keine Parteikarriere zu machen. Wenn etwa im Wahlprogramm der NRW-CDU von Kultur die Rede ist, dann geht es oft um „eine neue Kultur für Innovation, Forschung und Entwicklung“ oder eine „Stipendienkultur“, an anderer Stelle ist von „Kleingärten“ als „ein Stück nordrhein-westfälischer Kultur“ die Rede. Wo die „gemeinsame Leitkultur“ definiert wird, listet die CDU lauter Verbote auf („Rassismus… nicht durch Meinungsfreiheit gedeckt“, „Existenzrecht Israels nicht verhandelbar“, „Auseinandersetzungen in den Heimatländern vieler Migranten [dürfen] nicht auf unseren Straßen ausgetragen werden“).

Die einzige positive Standartantwort zu unserer Kultur ist meist: das „Grundgesetz“. Habermas‘ „Verfassungspatriotismus“, so ein weitgehender Konsens, soll den Deutschen ebenso wie den Zugewanderten als kulturelle Heimat genügen. Bestenfalls wie im NRW-CDU-Programm mit kurzem Hinweis auf „christlich-jüdisch-abendländische Wurzeln“ und die „Werte der Aufklärung“ garniert. Aber kann und soll ein Rechtskodex wirklich die Inkarnation der deutschen Kultur sein?

Der Unwille oder eher: die offensichtliche Unfähigkeit der politischen Klasse, zu Kulturfragen anderes als Sprechblasen und Ausflüchte zu fabrizieren, ist wohl die eigentliche, tiefere Krise der Parteiendemokratie. Die Präsidentenwahlen in Frankreich haben gezeigt, wie es etablierten Parteien ergeht, die auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse keine Antworten finden. Dann suchen sich die Bürger ihre Antworten anderswo.

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