Nach Attacken in Deutschland Die offene Gesellschaft ist tot – es lebe die offene Gesellschaft!

Noch nie wurde so intensiv über die Gesellschaft diskutiert wie heute. Nach den jüngsten Anschlägen ist die Frage nicht nur: "Wie konnte das passieren?", sondern: "Wie kann es mit der offenen Gesellschaft weitergehen?"

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Deutschland trauert "mit schwerem Herzen"
Kanzlerin Merkel Bundeskanzlerin Angela Merkel lobt die Hilfsbereitschaft der Münchner in der Tatnacht, in der viele ihre Wohnungen Fremden zur Verfügung stellten. "In dieser Freiheit und Mitmenschlichkeit liegt unsere größte Stärke", sagt Merkel am Samstag. Deutschland trauere "mit schwerem Herzen um die, die nie mehr zu ihren Familien zurückkehren werden." Sie fügte an die Adresse der Angehörigen hinzu: "Wir denken an Sie, wir teilen Ihren Schmerz, wir leiden mit Ihnen." Quelle: dpa
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte in der „Welt am Sonntag“, dass „wir in extremen Situationen“ wie Terroranschlägen „auch in Deutschland auf die Bundeswehr zugreifen können“. Quelle: AP
De Maizière: "Explosionen von Gewalt"Für Innenminister Thomas de Maizière waren es „Explosionen von Gewalt“, die in München zum Tod von neun unschuldigen Menschen führten. Der Amokläufer war nach den Worten de Maizières für die Sicherheitsbehörden zuvor ein unbeschriebenes Blatt. „Gegen ihn waren bisher keine polizeilichen Ermittlungen bekannt.“ Deswegen habe es auch keine staatsschutzrelevanten Informationen gegeben. „Und es gibt auch keine Erkenntnisse der Nachrichtendienste über diese Person.“ Möglicherweise sei der junge Deutsch-Iraner gemobbt worden. Dennoch sprach sich de Maizière dafür aus, die Einsatzkonzepte der Polizei noch einmal unter die Lupe zu nehmen. „Das wird sicher jetzt noch einmal überprüft werden müssen“, sagte der CDU-Politiker am Samstagabend in der ARD. Und gegenüber der „Bild am Sonntag“ sagte er, dass zunächst ermittelt werden müsse, wie der Amokläufer an die Tatwaffe gelangt sei. „Dann müssen wir sehr sorgfältig prüfen, ob und gegebenenfalls wo es noch gesetzlichen Handlungsbedarf gibt.“ Quelle: dpa
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel Quelle: dpa
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) Quelle: dpa
Münchner OB - "Unsere Stadt steht zusammen" Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter äußert sich über die Tat entsetzt. Alle städtischen Feste und Feiern seien für dieses Wochenende abgesagt. "Es sind schwere Stunden für München." Er sei von der großen Hilfsbereitschaft und Solidarität beeindruckt. "Unsere Stadt steht zusammen." Quelle: dpa
Unionsfraktionschef Volker Kauder warnt vor einer Ausbreitung von Hass und Gewalt. Noch sei nicht bekannt, was den Attentäter zu den Morden getrieben habe. "Unabhängig davon, was seine Motive waren und wie sich seine persönliche Disposition darstellt, müssen wir aber noch mehr darauf achten, dass sich Hass und Gewalt in unserer Gesellschaft generell nicht weiter ausbreiten." Quelle: dpa

Würzburg, München und Ansbach stehen für drei Verbrechen, die Deutschland in Atem halten. Neben der lückenlosen Aufklärung der Taten und damit verbunden der Beantwortung der Frage „Wie konnte das passieren?“, stellt sich immer mehr die Frage: Wie kann es mit der offenen Gesellschaft weitergehen?

Dabei reichen die Antworten von Beschwichtigung bis hin zu Todesgesängen: Man solle sich angesichts der wenigen Toten nicht zu sehr aufregen, sterben doch auch täglich bei Verkehrsunfällen Menschen, ist beispielsweise zu lesen. Obschon dieser Vergleich vielleicht sachlich richtig ist, ist er ethisch indiskutabel, wie der Blick auf die Fakten beweist:

Während es bei Verkehrstoten ein Zufall ist, der Leben auslöscht, ist es bei den oben genannten Verbrechen ein Mensch, der durch bewusstes Handeln andere Menschen ermordet. Oder es wird argumentiert, dass wir uns an derartige Situationen gewöhnen müssen und nunmehr verstärkt kontrolliert werden müsse, um Vertrauen wieder herzustellen.

Große Terroranschläge in Europa

Irritiert stellt man sich die Frage: An Attentate und Anschläge gewöhnen? Durch mehr Misstrauen zu mehr Vertrauen gelangen? Ein Teufelskreis bahnt sich an und der Polizei- und Überwachungsstaat schickt seine Vorboten. So wegweisend der Begriff der offenen Gesellschaft im vorausgehenden Jahrhundert also war, so problematisch zeigt er sich angesichts der aktuellen Verwerfungen.

Klaus Zierer ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Zuvor war er Professor an der Universität Oldenburg.

Einst von Karl Popper geprägt, um ein in der Tradition des Liberalismus stehendes Gesellschaftsmodell auf den Punkt zu bringen. In diesem, so die Theorie, gelte Gewaltenteilung und Demokratie mit dem entscheidenden Merkmal: Gewaltfrei ließen sich Regierungen abwählen. Soweit der Theorie erster Teil. Es dauert allerdings nicht lange, bis sich die erste Kritik an Karl Poppers Gedanken formierte:

Ralf Dahrendorf, William Bartley und Joachim Fest meldeten sich beispielsweise zu Wort und versuchten theoretisch zu belegen, dass eine offene Gesellschaft – gerade wegen dem absoluten Wert der Freiheit – nicht in der Lage ist, einen minimalen Wertekonsens herzustellen, geschweige denn zu erhalten. Bekannt geworden ist dieses Dilemma unter dem Begriff des Böckenförde-Diktums: „Der freiheitlich, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und aus diesem Grund böte eine offene Gesellschaft Radikalisierungen und Ideologisierungen sogar einen Nährboden, der sie über kurz oder lang vernichten kann. Soweit der Theorie zweiter Teil.

Die Realität bestätigt angesichts Würzburg, München und Ansbach eindringlich beide Teile der Theorie und erweckt den Eindruck: Die offene Gesellschaft ist tot! Ein Übung in ethischer Reflexion kann aufzeigen, dass dies nicht der Fall sein muss, wenn man den Begriff der „offenen Gesellschaft“ richtig versteht:

Es gibt keinen Wert ohne Gegenwert – und beide sind positiv zu verstehen. Diese Einsicht ist eine Kernaussage der Philosophie, die bis in die Antike zurückreicht. Bereits Aristoteles spricht in seiner Nikomachischen Ethik vom rechten Maß, um deutlich zu machen, dass kein Wert etwas selbstverständliches und unumstößliches ist, sondern stets in einer spannungsreichen Balance zu anderen Wertvorstellungen zu sehen ist und die Herausforderung des menschlichen Lebens darin besteht, diese Balance zu finden. Ein Beispiel soll das Gesagte verdeutlichen:

Ein Beispiel zur Balance

Großzügigkeit ist eine christliche Tugend und für viele ein Wert, der gerade in Zeiten von Flüchtlingskrisen besondere Beachtung genießt. Was Großzügigkeit aber genau ist, hängt sehr vom Kontext ab. Nehmen Sie den Fall, dass Ihr Lebenspartner sich großzügig zeigt, indem er Sie hin und wieder zum Essen einlädt. Das werden Sie ohne Frage schätzen. Was aber, wenn Ihr Lebenspartner nicht nur Sie, sondern jedes Mal gleich das ganze Lokal miteinlädt? Dann hätten Sie vermutlich ein Problem damit, weil seine Großzügigkeit zur Verschwendung wird und somit zu einem Unwert, wie es Friedemann Schulz von Thun in seinem Wertequadrat nennt.

Folgt man dem Gedanken des Wertequadrates weiter, so lässt sich im Kontext von Großzügigkeit auch der Fall konstruieren, dass Sie von Ihrem Lebenspartner nie zum Essen eingeladen werden – nicht einmal zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Dann zeigt sich Ihr Lebenspartner geizig und der Gegensatz zur Großzügigkeit ist gefunden: Geiz.

Das rechte Maß finden

Wichtig an dieser Stelle ist die Fortführung des am Quadrat orientierten Gedankenganges, dass es nämlich ein Maß an Geiz gibt, das durchaus positiv zu verstehen ist. Die Rede ist von der Sparsamkeit. Keiner erwartet von seinem Lebenspartner, dass man ständig zum Essen eingeladen wird, sondern vielleicht hin und wieder, und sicherlich entwickelt jeder Verständnis dafür, wenn der Lebenspartner Geld spart, um es für sich in anderen Situationen zur Verfügung zu haben. Infolgedessen lassen sich im konstruierten Fall, aber auch in jedem anderen Entscheidungskontext, zwei Werte finden, die beide positiv zu sehen sind und aber in ein und derselben Situation virulent werden können: Großzügigkeit und Sparsamkeit.

Das rechte Maß zeigt sich schließlich daran, wie es einem gelingt, eine sinnvolle Balance zwischen zwei Werten zu finden, ohne in ein Extrem, einen Unwert abzugleiten. Im genannten Beispiel wären das der Geiz und die Verschwendung.

Das mit diesem Beispiel veranschaulichte Problem der Nichtselbstverständlichkeit des Selbstverständlichen ist auch für die Neubestimmung der offenen Gesellschaft bedeutsam. Denn auch Freiheit als das zentrale Kennzeichen ist nur ein Wert, dem ein positiver Gegenwert nebenan gestellt werden kann.

Bereits Friedrich Daniel Ernst Schleichermacher hat darauf hingewiesen, dass Freiheit ohne Grenzen aufhört, Freiheit zu sein. Denn dort, wo keine Grenzen mehr bestehen, wird sie zur Beliebigkeit. Und dort wo keine Freiheit mehr existiert, werden Grenzen zu Verboten. Der Gegenwert zur Freiheit ist folglich das Verbot – häufig in Gang gesetzt durch noch mehr Gesetze, durch noch mehr staatliche Richtlinien, durch noch mehr Polizei usw. usf.

Die offene Gesellschaft schafft sich selbst ab

Angesichts der aktuellen Entwicklungen lässt sich schließen: Die offene Gesellschaft ist dabei, sich gerade selbst abzuschaffen und zu einem Verbotsstatt zu werden. Gibt es also einen Ausweg aus dieser Selbstaufgabe? Die Übung in ethischer Reflexion weist den Weg: Es sind die Grenzen, die zu ziehen sind, und im Kontext der offenen Gesellschaft sind es Werte, die diese Grenzen setzen: Globalisierung auf der einen Seite – aber auch Lokalisierung auf der anderen? Multikulturalität auf der einen Seite – aber auch Kulturalität auf der anderen? Meinungsfreiheit auf der einen Seite – aber auch Meinungsbegrenzen auf der anderen? Religionsfreiheit auf der einen Seite – aber auch Religionsbegrenzung auf der anderen? Dabei zeigt sich wohl nur eine Maxime als indiskutabel, die weniger ein Wert, als eine tiefe Erkenntnis darstellt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar – wird diese verletzt, findet Meinungsfreiheit ihre Begrenzung; wird diese verletzt, findet Religionsfreiheit ihre Begrenzung.

Ob ein Lied über einen Staatsmann, ein Cartoon über einen Glaubensführer, ein Computerspiel, eine Kopfbedeckung – diese Fragen und viele andere mehr sind zu diskutieren. Sie nicht zu diskutieren gleicht Denkverboten und ist das Ende der Demokratie. Deutschland braucht also mehr denn je diese Diskussionen über Werte, um Grenzen zu ziehen und einen ethischen Minimalkosens für den Erhalt der offenen Gesellschaft herzustellen: Es lebe die offene Gesellschaft!

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