Pflegeversicherung Boom bei Pflegeleistungen verursacht Mehrausgaben in Milliardenhöhe

Seit der Pflegereform erhalten deutlich mehr Menschen Pflegeleistungen. Es droht ein Drei-Milliarden-Euro-Defizit. Beitragserhöhungen sind nicht mehr ausgeschlossen

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Seit der Pflegereform steigt die Zahl der Menschen, die Anspruch auf Pflegeleistungen haben, stark an. Quelle: imago/photothek

Berlin Die gesetzlichen Pflegekassen schlagen Alarm: Die 2017 in Kraft getretene Pflegereform führt in diesem Jahr zu einem deutlich stärkeren Anstieg der Pflegeausgaben als bisher erwartet worden war. Das ohnehin erwartete Defizit von etwas über einer Monatsausgabe dürfte sich daher bis zum Jahresende auf mehr als drei Milliarden Euro verdreifachen, teilte am Donnerstag das zuständige Vorstandsmitglied des GKV-Spitzenverbands Gernot Kiefer mit. Ein Grund ist der deutliche Anstieg der Zahl der Leistungsempfänger. Erhielten Ende 2016 noch 2,95 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung, dürfte die Zahl bis Ende 2018 nach Schätzung des Verbands auf rund 3,46 Millionen Leistungsempfänger steigen.

Grund ist die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Mit ihm wurden die bisherigen drei Pflegestufen durch fünf Pflegegrade ersetzt, die geistige Defizite wie Demenz bei den Pflegeleistungen stärker berücksichtigen. „Die Pflegeversicherung boomt. Es erhalten so viele Menschen wie noch nie Leistungen aus der Pflegeversicherung und diese sind insgesamt auch höher als prognostiziert“, so Kiefer.

Gegenüber den ursprünglichen Annahmen im Vorfeld der Reform sind im Jahr 2017 rund 115.000 Menschen im Bereich der ambulanten Pflege mehr in die Pflegeversicherung gekommen, als erwartet. Setzt man für diese Personen die durchschnittlichen Ausgaben aller Personen an, die ambulante Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommen, so führen diese zusätzlichen Personen im laufenden Jahr allein zu Mehrausgaben von 0,9 Milliarden Euro.

„Im Vorfeld der letzten großen Pflegereform“, so Kiefer weiter, „wurde die Befürchtung geäußert, dass die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade dazu führen, dass die Pflegebedürftigen schlechter gestellt werden. Das Gegenteil ist aber eingetreten.“ Es gebe zahlreiche Leistungsverbesserungen. So erhalte ein Pflegebedürftiger im Pflegegrad 1 als ambulante Leistung einen Entlastungsbetrag in Höhe von 125 Euro pro Monat. Ein Pflegebedürftiger in Pflegegrad 2 bekomme zusätzlich zu dem Entlastungsbetrag als ambulante Leistung entweder einen Geldbetrag in Höhe von 316 Euro oder Sachleistungen im Gegenwert von 689 Euro pro Monat. Ein stationär versorgter Pflegebedürftiger mit dem Pflegegrad 5 erhalte sogar Sachleistungen im Gegenwert von 2005 Euro pro Monat. In allen Pflegegraden kommen bei den ambulanten Leistungen gegebenenfalls noch weitere Leistungen wie Wohnumfeld verbessernde Maßnahmen hinzu. Auch das führt zu zusätzlichen Aufgaben.

Zu Mehrausgaben führt auch, dass wegen der neuen Bewertungskriterien mehr Menschen ein höherer Grad der Pflegebedürftigkeit bescheinigt wird als nach altem Recht. Kiefer: „Die Auswertung der Begutachtungsergebnisse zeigt, dass der Anteil an höheren Pflegegraden zunimmt, womit deutlich höhere Ausgaben für die Pflegeversicherung verbunden sind.“ Das sei im Prinzip ein gutes Signal. Offensichtlich stellten die Prüfer die medizinisch-pflegerischen Notwendigkeiten über die finanziellen Folgen für die Pflegeversicherung. „Die gute Arbeit der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung hat sich also bewährt.“

Steigt der relative Anteil an höheren Pflegegraden, steigen die individuellen Leistungen entsprechend. Die finanziellen Auswirkungen dieses Struktureffektes beziffert Kiefer für das laufende Jahr auf rund eine halbe Milliarde Euro.

Je höher der Pflegegrad einer ambulant zu pflegenden Person ist, desto höher sind aber auch die Leistungen zur sozialen Sicherung, die die pflegenden Angehörigen dafür erhalten. Dies sind beispielsweise zusätzliche Zahlungen von der Pflegeversicherung an die Renten-, Arbeitslosen- und die Pflegeversicherung. Die Höhe dieser Zusatzausgaben liegt im laufenden Jahr vermutlich bei einem hohen dreistelligen Millionenbetrag.

„Der unerwartet hohe Anstieg an Leistungsempfängern und die höheren Leistungsbezüge der Pflegebedürftigen führen zu höheren Ausgaben der Pflegeversicherung, als für dieses Jahr kalkuliert waren. Deshalb erwarten wir im laufenden Jahr Mehrausgaben von rund zwei Milliarden Euro. Damit wird sich das Defizit der Pflegeversicherung über die bisher eingeplante gut eine Milliarde Euro auf eine Größenordnung von rund drei Milliarden Euro bis Ende 2018 erhöhen.“ Um zu entscheiden, was dies für Auswirkungen auf die Pflegeversicherung hat, seien in den kommenden Wochen und Monaten weitere Analysen notwendig betont Kiefer. Das Wort Beitragserhöhungen nimmer er dabei noch nicht in den Mund.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%