Und sie landet, wenn nicht zufällig so doch beiläufig, bei der CDU. Sie hat keine Ahnung, dass Konrad Adenauer seiner Partei 1946 ins Stammbuch schrieb, was sie das Leben lehrte: Politik soll keine Programme entwerfen, sondern Ziele erreichen. Wenn Angela Merkel einen inneren politischen Wertekompass hat, so zeigt der auf Freiheit. Nicht die Freiheit zu überspannten Lebensäußerungen, sondern die praktische, nützliche Freiheit Ludwig Erhards. Seine soziale Marktwirtschaft will sie erneuern.
Im Kommunalwahlkampf von NRW 2004 schippert die Unschuld vom Lande auf dem Rhein-Herne-Kanal von Gelsenkirchen nach Oberhausen. 150 Leser einer Regionalzeitung sind an Bord, der Chefredakteur lädt zum Interview, es gibt Bockwurst für einen Euro fünfzig. Angela Merkel guckt aus dem Fenster und sagt, es gebe eine Menge Grün im Ruhrgebiet.
Eine Leserin will wissen, wie die CDU-Chefin ihre Freizeit verbringt. Angela Merkel erzählt formatiert und verschwiegen. Sie hat ein Wochenendhaus nahe Templin, mit Garten. Die Tomaten sind dieses Jahr nicht rot geworden. Die Bohnenernte war gut. Die Erbsenernte war ausreichend. Angela Merkel kocht Kartoffelsuppe und backt Pflaumenkuchen mit Hefeteig. "So", sagt sie, "das war’s." Das Boot legt an. Angela Merkel ist erleichtert. Endlich hat sie wieder festen Boden unter den Füßen.
Wie eine aufgedrehte Spielzeugente watschelt sie durch den Oberhausener Vergnügungspark, die Entourage kann kaum Schritt halten, ein paar Wortwechsel mit Passanten, ein strahlendes Foto mit Benjamin Blümchen, dann fängt es an zu regnen. "Schade", sagt Angela Merkel, "ich wär’ so gerne Riesenrad gefahren." Stattdessen kehrt sie nun ins Brauhaus ein, die CDU tischt Dixieland auf und zwei knappe Wahlkampfreden, ein halbes Hähnchen für jeden mit ganz viel Pommes. Angela Merkel gähnt und vergisst dabei, ihre Hand vor den Mund zu nehmen. Das Volkstümliche strengt sie an, das Bad in der Menge ermüdet sie gründlich. Endlich kommen die Pommes. Sie langt zu. Sie ist hungrig, wie immer.
Angela Merkel will schon lange Kanzlerin werden, keine Frage, unbedingt. Sie hat nicht am Gartenzaun gerüttelt wie Gerhard Schröder, aber sie verfolgt ihr Ziel genauso entschlossen. Angela Merkels Laufbahn hat sich in einer Art Schnittmenge vollzogen, irgendwo zwischen ihrem Willen zur Macht und der Macht ihres Schicksals. Ihren Aufstieg verdankt sie so gut der Fähigkeit, sich selbst herauszufordern wie der Fähigkeit ihrer Wettbewerber, sie hartnäckig zu unterschätzen. Angela Merkel hat es geschafft, weil sie ihrem Ehrgeiz folgte und weil die Partei es passieren ließ. Ihren Erfolg hat sie so machtvoll befördert wie er ihr gütig zugestoßen ist. Angela Merkel hat ihre Karriere betrieben, der CDU ist sie unterlaufen.
Das Laufwunder wird von Anfang an unterschätzt. Im Kabinett gilt Merkel als Kohls Mündel, von dero Gnaden Ministerin für Frauen/Jugend (1991- 1994) und Umwelt (1994-1998), doppelte Quote, doppelt belächelt: eine Frau aus dem Osten. Erst der neue Parteichef Wolfgang Schäuble emanzipiert sie 1998 zur Generalsekretärin. Als Schäuble über die Spendenaffäre stolpert, steht Merkel plötzlich wie eine Ikone des Neuanfangs da. In der CDU-Führung regt sich Skepsis; die Spitzen wollen einen elder statesman für den Übergang, Kurt Biedenkopf oder Bernhard Vogel. Aber Angela Merkel weiß sich zu helfen. Sie erfindet die Regionalkonferenzen, gewinnt die Basis, sie wird für ihren diskursiven Führungsstil gepriesen und erzwingt den Vorsitz. Die CDU-Granden beruhigen sich; ist ja nur für den Übergang. Zum Jahreswechsel 2001/02 wird amtlich, dass die Union Angela Merkel mehr duldet als schätzt: Reihenweise kehren ihr Vorstände und Landeschefs den Rücken, Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) geht ins Kanzlerrennen. Die verlorene Bundestagswahl 2002 ist für Angela Merkel ein Erfolg gegen die Union. Sie erobert den Fraktionsvorsitz. Sie steht auf, klopft sich den Staub vom Leib, rennt wieder los.
Mit Wahlsiegen in den Ländern festigt sie seitdem ihre Macht, mit Macht ihre Führungsrolle in Berlin. Ihren engsten Führungskreis hat sie wie einen weiblichen Geheimbund organisiert. Büroleiterin Beate Baumann ist ihre vertraute Einflüsterin, ein Gewittertierchen mit feinen Fühlern, immer als Spionin unterwegs im Land der parteiinternen Feinde. Pressesprecherin Eva Christiansen systematisiert die Meinungskontrolle, lenkt, leitet, deutet die politischen Gassenhauer des Tages, synchronisiert Angela Merkels Standpunkte mit der öffentlichen Wahrnehmung und die öffentliche Wahrnehmung mit Merkels Standpunkten. Auf Baumann und Christiansen kann Angela Merkel sich unbedingt verlassen. Wenn die drei nicht gerade aufeinander glucken, beackern sie ihre Mobiltelefone, senden sich Neuigkeiten, melden Wasserstände, taxieren die Debatten, tarieren sie in ihrem Sinne aus. Es kommt vor, dass Angela Merkel mit der Steuerung des tagespolitischen Geplänkels so sehr beschäftigt ist, dass sie bei öffentlichen Terminen an der Seite der Gastgeber plötzlich ungeniert anfängt, auf ihr Handy einzutippen. Das Simsen ist ihr zur Sucht geworden.